Immer noch nichts zu verbergen?

Der Datenmissbrauchs-Fall um Facebook und Cambridge Analytics greift tief in die Meinungsbildungsprozesse ein, die Teil des modernen westlichen Demokratiekonzepts sind.

Ein kleiner argumentativer Umweg über das gerühmt-berüchtigte „Nichts zu verbergen“-Argument zeigt, wie stark diese Störung ist. Dieses Argument besagt: „Wenn ich nichts Böses vorhabe, kann mir Überwachung – etwa durch Strafverfolger – gleichgültig sein, also hat Überwachung nur Vorteile und keine Nachteile.“ Datenschützer haben schwer damit zu kämpfen.

Eine der bekannteren Erwiderungen darauf stammt von Daniel Solove: Allzu große Offenheit über sich selbst berührt häufig auch die Interessen anderer. Ein Mensch etwa, der die Krebserkrankung eines Familienmitglieds oder Freundes herumerzählt, mindert mitunter leichtfertig die Chancen des Betroffenen, wieder einen Job zu bekommen. Facebook unterminiert die Vorsicht in solchen Dingen, weil die Plattform das „Teilen“ und „Verbinden“ zum positiven Maß der gesellschaftlichen Interaktion hochstilisiert.

Für den aktuellen Fall noch spannender ist die Kritik an der „Nichts-zu-Verbergen“-Position, die von Emilio Mordini formuliert wurde, einem Gutachter für EU-Instanzen in Fragen digitaler Identifizierungstechnik. Mordini sagt, dass erst die Fähigkeit, etwas von sich zu verbergen, einen Menschen zum Individuum macht. Der Mensch schafft es sonst nicht, sich von anderen Wesen abzugrenzen und sein „Ich“ vollständig zu entwickeln.

Addiert man hierzu Byung-Chul Hans harsche Analyse der Idee einer „Transparenzgesellschaft“, die antisozialem und kriminellem Verhalten die stetige Überwachung aller durch alle entgegensetzen will, tritt eine tatsächlich die Demokratie gefährdende Tendenz zutage: Sobald Menschen sich nicht einmal mehr temporär aus der Gesellschaft zurückziehen können oder wollen, um etwas Komplexes zu durchdenken, und wenn stets jeder ihrer mentalen Entwicklungsschritte gewollt oder ungewollt öffentlich wird, haben sie es schwer, kreative und eigenständige Ideen zu entwickeln. Sich allzu schnell äußeren Einwänden auszusetzen, birgt die Gefahr, bei Widerspruch oder fremder Belehrung ebenso schnell mit Anpassung zu reagieren.

Cambridge Analytics hat im Facebook-Bestand gezielt nach Wählern gesucht, die sich noch im politischen Meinungsbildungsprozess befanden, und diese Menschen gezielt selektiver Beeinflussung ausgesetzt – eine viel intensivere Indoktrination, als jede klassische Parteienwerbung sie leisten könnte. Die modernen Demokratien müssen daraus den Schluss ziehen, dass es gut ist, wenn ihre Bürger etwas zu verbergen haben und dies auch tun – sprich: Sie müsse Anonymität und Datensparsamkeit fördern, wo sie hingehören, auch wenn Innenminister, Strafverfolger oder Profilbildungs-Strategen in der Wirtschaft dies gar nicht gern hören.

Edward Snowden hat den Vertretern der „Nichts-zu-verbergen“-Theorie sinngemäß eine sehr intelligente Replik entgegengehalten: „Dann könnte man auch sagen, man brauche keine Meinungsfreiheit, weil man gar nichts Eigenes vorzubringen habe.“

Facebook und Cambridge Analytics haben Transparenz und Beeinflussbarkeit gefährlich nah zueinander gebracht.

Gekürzte Version als Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung, 31.3.2018

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