Informationelle Selbstgestaltung

Den Begriff „Informationelle Selbstgestaltung“ habe ich bei Michael Nagenborg entdeckt. Er war Teil des Titels seines Vortrags auf der Konferenz „Die Zukunft der informationellen Selbstbestimmung„, an der ich im November in Berlin ebenfalls als Referent teilgenommen habe.

Den Vortrag selbst habe ich leider nicht gesehen, aber der Autor hat mir Manuskripte dazu zugänglich gemacht. Er befasst sich darin mit Aspekten der Selbstgestaltung und der „Erweiterung des Geistes“ durch Technik. Er plädiert dafür, diese Möglichkeiten ernst zu nehmen und fragt vor diesem Hintergrund danach, ob man den Anwendern zu viel Freiheit nimmt, wenn ihnen etwa durch das Design von Social-Media-Tools von vornherein einen restriktiven Umgang mit persönlichen Informationen nahelegt. Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, verneint er dies am Ende, weil die entsprechende Design-Entscheidung ja das Ziel hat, die Freiheit der Anwender zu sichern. Ein spannendes Thema!

Mir hilft der Begriff „Informationelle Selbstgestaltung“ zur Zeit dabei, ein paar andere Gedanken auf den Punkt zu bringen, die in diesem Blog schon lange eine zentrale Rolle spielen.

Als vor einiger Zeit in einer Diskussion einmal wieder jemand darauf beharrte, dass die Zeit des Datenschutzes ohnehin vorbei sei und „informationelle Selbstbestimmung“ nicht mehr als eine romantische Illusion darstelle, ist mir mit Blick auf die „Masken“ endlich einmal eine Antwort eingefallen, die den Diskussionspartner tatsächlich erst einmal verstummen ließ:

„So lange Menschen noch an ihrem Image feilen, mit Masken spielen, sich ändern oder dann und wann neu verwirklichen wollen, so lange werden sie auch versuchen, die Informationen zu kontrollieren, die sie an ihre Umgebung senden. Und dabei sollte man sie fairerweise unterstützen, denn sonst sperrt man sie in einem Kokon an zugewiesenen Eigenshaften ein, den sie nicht mehr beeinflussen können.“

Kurios – diese aktive Seite der informationellen Selbstbestimmung haben sowohl Datenschutzaktivisten als auch ihre Gegner noch immer recht selten auf dem Radar. Dabei kennt man das Modell doch schon lange von Künstlern: David Bowie und Madonna etwa haben sich teils als Kunstfiguren, teils als künstlerisches „Ich“ immer wieder neu erfunden und dabei mit allen möglichen Identitätsaspekten gespielt.

Blogger betrachten ihr Tun zuweilen unter ähnlichen Aspekten. Sebastian Flotho etwa versteht seinen Seppolog auch als eine Art Maske, seinen passenden Beitrag dazu habe ich vor einiger Zeit hier eingebunden.

Und auch in den sozialen Netzwerken modellieren sich die Nutzer ihr Bild immer wieder selbst – bei den Business-Netzwerken LinkedIn und Xing, um den nächsten Job oder neue Geschäftsgelegenheiten zu ergattern, und auf Facebook, um in der Clique, der Familie oder ganz seriös im Freundeskreis ein gutes Bild abzugeben und „dazuzugehören“.

Alles Lüge? Alles nur Schau? Übles Selbst-Marketing? Betrug? Müsste man verbieten?

Unsinn, nur im Falle eines kriminellen Missbrauchs.

Eigenartig, heftige ethische Beurteilungen oder besser Ver-Urteilungen bekomme ich angesichts der penibel optimierten Web-Visitenkarten einzelner Menschen immer wieder zu hören. Dabei hat es das Feilen am öffentlichen Bild seiner selbst doch schon seit jeher gegeben, früher eben mittels passender oder gewollt unpassender Kleidung und Frisuren, mit Hilfe passender oder gewollt unpassender Mopeds oder Autos, der Wahl der Freundeskreise und der Freizeitaktivitäten und durch gezielte Modulation der eigenen Kommunikationspraktiken.

Meine Mutter etwa hat mir in den 60ern und 70ern vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kein Westfälisches Platt beigebracht, obwohl sie es konnte. Ich sollte konsequent hochdeutsch reden. Um höher zu kommen. Dann habe ich Germanistik studiert. Danach war ich Journalist, schreibe noch immer allerlei Zeug und verfasse zu allen Überfluss diesen Blog. Hatte sie recht? Alles ein Graus.

Die Grenze zwischen oberflächlicher Image-Pflege und echter, ehrlicher Arbeit am Selbst war bei Bestrebungen dieser Art immer fließend. Beides beeinflusst sich gegenseitig. Irre ich mich, oder gab es neben den verschiedenen Facetten des Altruismus in fast allen anerkannten und diskutierten Ethiken nicht immer wieder auch die Zielvorgabe für den Einzelnen, das Beste aus sich selbst herauszuholen?

Erstaunlich finde ich auch, wie intolerant ein gewisser Teil der kleinen oder großen Öffentlichkeit unserer Zeit auf Missgriffe Jugendlicher in Sachen Selbstdarstellung im Internet reagiert. Ich denke dabei vor allem an die immer wieder thematisierten Suff- und Party-Fotos auf Facebook.

Da könnte genau die Generation, die sich darüber heute so künstlich aufregt und dem einen oder anderen „Delinquenten“ aufgrund solcher Funde womöglich eine ersehnte Anstellung verweigert, ganz gut von den Gemeinschaften der alten Dörfer lernen, wo auch jeder jeden kannte.

Wer darf, setze sich einmal bei einem Schützenfest oder einer anderen Feier an den Tisch und lausche den Gesprächen.

Irgendwann kommen mit Sicherheit Geschichten zur Sprache, bei denen es um die Untaten der einen oder anderen Göre oder des einen oder anderen schlimmen Jungen in der Vergangenheit geht – da hat er oder sie geklaut, ist auf den Kirchturm gestiegen oder hat stark alkoholisiert noch ganz andere üble Dinge verübt.

Oft genug kommt dann aber ebenso selbstverständlich die Auskunft hinterher, was aus der fraglichen Person doch später für ein feiner oder erfolgreicher Mensch geworden sei. Nachtragend ist man da eher selten.

So viel Fairness wird in Sachen Internet-Selbstdarstellung wohl erst herrschen, wenn aus jener Generation, die heute mit „ungeeigneten“ Selbstpräsentationen auf Facebook von sich reden macht, mehr Personen selbst Chefpositionen erreicht haben. Das dauert zum Glück wohl nicht mehr so lange. Das neue europäische „Recht auf Vergessenwerden„, das es erlaubt, altes und dem eigenen Image inzwischen wenig förderliches Zeugs aus  Suchmaschinenergebnissen löschen zu lassen, ist da kein echter Ersatz für menschliche Toleranz und Weisheit.

Was natürlich durchaus zu Buche schlägt, ist die Tatsache, dass eine Internet-Selbstpräsentation auf eine weit weniger begrenzte Beurteilerschar trifft als das Benehmen in einem ländlichen Dorf der 50er Jahre. Aber dass die Prinzipien vergleichbar sind, lasse ich mir nicht ausreden.

Randnotiz wegen plötzlichem Geistesblitz:

Muss ich mir jetzt eigentlich alle Tolkien-Bücher, Star-Trek-Folgen und Comics, in denen Formwandler vorkommen, noch einmal auf philosophische Implikationen hin anschauen? Ob beim Formwechsel Aspekte der informationellen Selbstgestaltung im Spiel sind? 

Verlockend.

Bis dann, wir sehen uns 2020. Oder später.

OK, das verschiebe ich lieber noch einmal. 

Da aber schon das Thema „Ethik“ dem Tisch liegt, mache ich stattdessen einen Ausflug zu Gadamer und seinem Aufsatz „Die Kultur und das Wort“. Dabei handelt es sich um einen Vortrag, den der Philosoph zur Eröffnung der Salzbuger Hochschulwochen 1980 gehalten hat. Der Erstdruck erfolgte in „Kultur als christlicher Auftrag heute“, herausgegeben von Ansgar Paus, Kevelaer, Butzon & Bercker, Graz-Wien-Köln, 1981, S. 11-23. Ich entnehmen dem Text dem Bibliothek-Suhrkamp-Band „Hans-Georg Gadamer, Lob der Theorie, Reden und Aufsätze, Frankfurt am Main 1983, S. 9-25.

Für Gadamer ist es eine Wurzel der Kultur und ein besonderes Merkmal des Menschen, dass er seine Anschauung der Welt zur Sprache bringen, in „Worte“ fassen kann. Dieser Akt impliziert, dass der einzelne Mensch seine Anschauung der Dinge auch als seine individuelle preisgibt und damit zur Diskussion stellt. Zwischen den  unterschiedlichen Anschauungen und den daraus folgenden Handlungsanweisungen dann einen allgemeinverträglichen Ausgleich ähnlich den Forderungen des Kategorischen Imperativs nach Kant auszuhandeln, ist das Feld der kulturellen Interaktion und der Ethik.

Sich selbst darzustellen, wäre nach Gadamer dann ein „Wort über sich selbst“, das die Selbst-Interpretation ebenfalls fremder Kritik aussetzt: „So sehe ich mich, was sagt Ihr dazu? Passt das so? Muss ich was ändern?“

Wer heute als medienkompetentes Individuum sein Image via Blog, eigener Website, Facebook, LinkedIn oder Xing gestaltet, wird wohl kaum davon ausgehen, dass er oder sie damit unkritisiert und unkommentiert durchkommt. Kommunikation im Internet bedeutet immer Dialog – machmal erschreckend direkt, ungebremst und heftig. Das allseits sichtbare ständige Feilen an Profilen und Web-Auftritten belegt, dass diese These etwas für sich hat.

Damit aber ist die heute geläufige Praxis der informationellen Selbstgestaltung ein aus ethischen Gesichtspunkten positiv beachtenswerter Prozess, der zur ungehinderten Selbstentfaltung des Einzelnen beiträgt.

Und stand dazu nicht irgendetwas im Grundgesetz? Das müssen wir jetzt also nur noch in der aktuellen Datenschutzgesetzgebung verankern.

Bis dann, wir sehen uns 2040. Oder später.

Ein Paradies für Feiglinge … auch!

Monatelang ist der vorhergehende Blog-Beitrag schon online, es war wohl kein gutes Jahr.

Um zunächst einmal die Gedanken vom März wieder aufzunehmen: Damals fand ich keine Zeit, die zitierte „Um-Himmels-Willen“-Folge noch irgendwo anzusehen. Der Sender war aber so freundlich, mir auf Anfrage das Drehbuch zuzusenden.

Den Beißreflex beim Aufschnappen des Dialogfetzens hätte ich mir sparen können. So seifenoperhaft das ganze Serien-Setup auch sein mag, das Thema „Cybermobbing“ wurde hier durchaus adäquat und zielgruppengerecht durchgespielt. Und der Polizistenkommentar, nachdem das Internet ein Paradies für Feiglinge sei, trifft eben genau die hier betrachtete Facette der Anonymität im Internet: eine böswilligen Aktion zur Herabsetzung einer anderen Person. Mit all den verworrenen Hintergründen und Gründen, die solch einem Ausraster gewöhnlich vorhergehen.

In der Anonymität des Internets verstecken sich Feiglinge, aber Schüchterne finden darin zugleich ihren Raum zum offenen Gedankenaustausch. Die Namenslosigkeit schützt Verbrecher, aber auch von verbrecherischen Regimen verfolgte Menschen. Nicht diese Ambivalenz ist wohl das Problem, sondern die Tatsache, dass bei der Diskussion darüber die Radikalpositionen so häufig den Ton angeben.

Ein Paradies für Feiglinge?

17.3.2015, 20.35 am Abend, ein Fernseher läuft, niemand schaut hin. Ich stehe zufällig in der Nähe. Ein paar Sätze lassen mich aufhorchen, leider kann ich sie jetzt nicht mehr exakt wiedergeben. Es war ungefähr so: „…im Internet ist man fast immer anonym. Deshalb benutzen das solche Leute dafür. Ein Paradies für Feiglinge!“ Über den letzten Satz bin ich mir sicher. Ich sehe noch, dass dies ein Polizist zu einer Nonne sagt. Außerdem taucht kurz danach Fritz Wepper auf. Leider kann ich nicht verfolgen, wie es weitergeht.

Jetzt ist es 21.35, und ich schaue ins Internet, was ich da eigentlich gesehen habe. Es handelt sich um die Folge 179 der Serie „Um Himmels Willen“ im Ersten. Stories um ein Kloster und einen Bürgermeister und einen kleinen Ort. Die Folge hat etwas durchaus Aktuelles thematisiert: Nacktfotos eines Mädchens kursieren im Internet, sie wird deshalb gemobbt. Man vermutet dahinter den Ex-Freund. Die Nonnen wollen ihr helfen, doch die Eingriffsversuche machen zumindest anfangs alles nur noch schlimmer.

Mehr verrät mir der Webauftritt des Ersten nicht. Mag sein, dass man das Thema durchaus adäquat behandelt hat. Mag sein, dass die Polizistenaussage gar nicht so stehengeblieben ist. Mag sein, dass ich mich also gar nicht ägern darf.

Falls doch – dass man das mit Anonymität auch andersrum sehen kann, wurde hier schon behandelt: Anonymität als Schutz für die Schüchternen. Und jetzt muss ich die Serienfolge im Internet wohl nachträglich anschauen. Um Himmels Willen..,

Maskierte Helden vs. maskierte Bürger

Maskierte Helden“ aus der Literatur- und Mediengeschichte waren immer einmal wieder Thema in diesem Blog. Meist ging es dabei um den idealisierenden „Gentleman-Faktor„, der sie mit den venezianischen Bauta-Trägern verbindet.

Es ist aber auch wichtig, sich den Unterschied zu vergegenwärtigen: Die Bauta hatte einen egalisierenden und machtregulierenden Effekt innerhalb der venezianischen Oberschicht, während sich die maskierten Helden meist außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der Gesetze ihres Umfelds stellten. Waren sie absolut gut, war dies im jeweiligen Geschichtenkosmos kein Problem. Hin und wieder – Batman ist hier in gutes Beispiel – wurde aber doch das inhärente Problem thematisiert, dass sie auch zu persönlich begründeter Selbstjustiz oder Machtmissbrauch greifen konnten, weil sie sich meist komplett außerhalb der sozialen und gesetzlichen Kontrolle bewegten und überdies ja oft über außergewöhnliche Kräfte verfügten.

Die Bautaträger dagegen bildeten eine besondere Bürgergemeinschaft und unterlagen durchaus sozialen Kontrollen und unterwarfen sich ihnen freiwillig.

 

Privacy geht auch anders – Gedankenaustausch mit Christian Heller

Christian Hellers Buch „Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“ ist für jemanden, der die eigene Privatsphäre schätzt und Überwachung fürchtet, zunächst einmal harter Tobak: Heller befürwortet eine transparente Welt, in der jeder sein Leben komplett offenlegt. Menschen könnten so am besten voneinander lernen, schädliche soziale Entwicklungen vermeiden – und selbst Personen mit den wildesten Interessen und Lebensentwürfen fänden dank Transparenz auf jeden Fall irgendwo Gleichgesinnte und könnten so sozialen Repressionen entgehen.

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Liest man den Text, spürt man einen Seite für Seite wachsenden Druck, nicht so unsozial zu sein, irgendetwas verbergen zu wollen. „Privacy“ steht in Hellers Kosmos für Unvollkommenheit: Die Menschheit soll im Idealfall so tolerant sein, dass niemand etwas verbergen muss. Den Kampf um Privacy im Internet hält Heller bereits weitgehend für verloren.

„Datenschutz“ und speziell das Konzept der „Privatsphäre“ im uns geläufigen Sinne sieht Heller auch kritisch – unter anderem  als potenzielle Schutzfunktion der existierenden Machthaber und Machtstrukturen. Er verweist außerdem auf negative Seiten traditioneller Privatsphären-Konzepte, etwa den fragwürdigen Schutz häuslicher Gewalt, der sich lange Zeit damit verband.

Dieser Versuch einer Zusammenfassung ist allerdings nur eine extrem verkürzte Darstellung des Werks. Das Buch ist definitiv lesenswert, auch wenn man dem Autor generell nicht zustimmt oder speziell nicht der Meinung ist, dass die schwarzen Seiten des Sich-Verbergens den Privatsphäre-Gedanken so weit diskreditieren.

Es gibt zwei Formen von „Privacy“, die sich Heller auch für die Zukunft als sinnvoll vorstellen kann:

  • Eine Art freie Übereinkunft, auch ohne Schutzmaßnahmen bestimmte Bereiche des Lebens einfach dem Einzelnen zu überlassen, sie nicht weiter erforschen zu wollen und sie auch nicht zu bewerten und
  • eine temporäre Privacy nach der Art, wie man im Web einen Anonymizer benutzt.

Dazu hatten wir einen kurzen Gedankenaustausch per E-Mail, den ich hier wiedergeben darf:

JW:

Hallo Herr Heller,

würde gern etwas mit Ihnen diskutieren. Ich lese gerade „Post Privacy“ (spät, aber  gründlich), bin noch nicht durch, aber beziehe Ihre spannenden Ideen auf ein altes  europäisches Anonymitätskonzept, dem ich in meiner Freizeit auf den Grund zu gehen  versuche.

Link dazu folgt.

Ich teile Ihre Ansicht, dass die typisch deutsche Datenschutzidee historisch gewachsen  ist und wahrscheinlich gar nicht mehr so recht auf die moderne Internetwelt passt.

Ich kann auch nachvollziehen und würde jederzeit unterschreiben, dass die  „extrovertierte“ Version von informationeller Selbstbestimmung nicht nur „Pfui bah“ ist,  sondern ihre Vorteile hat, akzeptiert gehört und als Modell bedenkenswert ist.

Da ist nur ein Problem, das mich beschäftigt: Ich glaube, als Individuum muss man hin und  wieder die Möglichkeit haben, „die Rolladen zuzuziehen“ und eine Weile mit sich oder  seinen engsten Freunden allein zu sein („The right to be left alone“). Sei es, um mit  sich selber ins Reine zu kommen und sich selber im einen oder anderen Lebensentwurf  auszuprobieren, ohne dass irgendwer von außen seinen Senf dazu gibt. Sei es, um einfach  eine Weile unbeobachtet und vor allem unbewertet ruhen und sich von was auch immer erholen zu können. Genau das ist für mich „Privacy“.

Deshalb beschäftigt mich das alte, dummerweise vergessene Modell der venezianischen  Anonymitätskultur. Was ich dazu nach und nach ausgrabe, finden Sie unter  http://www.licence-to-mask.com. Der englische Teil hinkt dem deutschen leider derzeit mächtig  hinterher.

Die Venezianer teilten unsere aktuelle Vorstellung von einerseits privatem, andererseits öffentlichem Leben gar nicht. In beiden Sphären zogen sie sich temporär eine genormte  Gesellschaftsmaske über, wenn sie meinten, für eine bestimmte Aktion anonym zu sein sei  einfach besser – beim Meinungsaustausch im Senat, bei ersten Verhandlungen mit  unbekannten Händlern, im Casino, im Hafen oder beim Besuch von Liebhaber oder  Liebhaberin. Das alte Venedig war ein Denunzianten- und Schnüffelstaat erster Güte mit  gefürchteter Staatinquisition, aber die Masken-Zuflucht hatten zumindest die  Stadtadeligen (und jeder, der so tat, als ob) über etliche Jahrhunderte hinweg immer. Das  Ganze funktionierte bis zum Einmarsch der Österreicher so gut, dass sich die Venezianer  am Ende die Maske nur noch an den Hutrand klemmten oder durch eine weiße Spielkarte  ersetzten – als Signal, zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht als „Person“ gelten zu wollen,  sondern als „Anonymous“, dem man sein Tun und Lassen bitte nicht zurechne – solange er  bestimmte Grenzen (Gewalt) nicht überschritt.

Wäre das ein „Privacy“-Modell, dass zur Internetgesellschaft passt? The right to be left  alone, wenn die ganze Außenwelt einfach mal zuviel wird? Wäre mir sehr sympathisch…

Gruss,
Johannes Wiele

Heller:

Hmm, finde vor allem den letzten Punkt interessant, dass die Anonymität zum Ende hin bereits durch die Hutkarte funktionierte. Das hieße, so ich das richtig verstehe, dass die Identität des „Anonymisierten“ nicht streng geheim war (im Sinne einer Sache, die Unautorisierte schlicht nicht wissen /konnten/), aber man sich sozial darauf einigte, sie zu ignorieren.

Ich glaube, Privatheit auf Grundlage faktischer Geheimhaltung ist ein Auslaufmodell: Es lässt sich immer weniger verhindern, dass eine bestimmte Information nach außen hin verfügbar wird. Privatheit auf Grundlage sozialer Konvention im Sinne der Hutkarte kann ich mir dagegen als weiterhin machbar vorstellen: Wir könnten wissen, was Andere Leute in ihrem Schlafzimmer tun, wir haben dazu die technischen Mittel, und vielleicht sind Daten, die es umschreiben, sogar in irgendwelchen Datenbanken gespeichert und fließen in irgendwelche statistischen Kalkulationen mit ein. Aber vielleicht halten wir es trotzdem für unsittlich, diesen Daten hinterher zu stöbern, und vor allem, für die Betroffenen spürbar und sie bedrängend in ihr Schlafzimmer hinein zu lugen. Wie vermutlich auch der Hutkartenträger kann ich mir nicht hundertprozentig sicher sein, dass nicht doch irgendwer gegen diese soziale Konvention verstößt und mir bis in mein Schlafzimmer nachspioniert. Aber soweit diese soziale Konvention stark ist, kann ich damit rechnen, dass derjenige, der gegen sie verstößt, sozial abgestraft wird, so er dabei ertappt wird.

Das greift über in ein kurioses Argument, das David Brin in seinem Buch zur „Transparent Society“ entwürft: Die totale Transparenz könnte Privatsphäre vielleicht sogar hier und da stärken, weil auch jeder Akt des Spionierens, Überwachens und Spannens sichtbar gemacht und dadurch leichter sozialer Kontrolle unterworfen werden könnte. Bliebe eine starke soziale Konvention bestehen, dass diese oder jene Form des Eindringens in die Privatsphäre unduldbar sei, ließe sich diese Konvention dann umso stärker durchsetzen, wo jeder Privatsphären-Eindringling bei seiner Untat sofort ertappt würde.

Anekdotisch spricht dafür die gar nicht so neue Erfahrung, dass es „private“ Bereiche des Lebens gibt, die keineswegs im Verborgenen stattfinden, die in bestimmten öffentlichen Sphären zum Thema zu machen man sich aber dennoch verbittet. Wo und mit wem ich nach Dienstschluss mein Bier trinke, geht meinen Arbeitgeber nichts an, da hat er nicht reinzureden; nun kann es dennoch geschehen, dass er durch Zufall davon erfährt – das aber sollte kein Problem sein, er hat mir dennoch nicht im beruflichen Kontext daraus einen Strick zu drehen oder es mir zu verbieten oder mies zu machen. Dieses „Gewähren“ von Privatsphäre, ohne dass sie des Schutzes der Verborgenheit bedarf, könnte vielleicht die eine oder andere bisherige Privatsphäre auf Grundlage von Verborgenheit ersetzen.

JW:

Die Antwort gefällt mir.

Sie passt auch gut zu den Venezianern. Ihr Anonymitätsmodell war ja nicht verordnet, sondern ist aus spielerischen Umgangsformen miteinander entstanden und dann soziale Konvention geworden. Später fand man das Ganze eben auch praktisch für eine Art Vorgängerform der „freien und geheimen Wahlen“ im Senat, den maskierten Gedankenaustausch.

Und gerade da, wo es formal besonders geregelt zuging, passt Ihr Argument noch einmal. Als ich meiner Frau zum ersten Mal vom „anonymen“ Diskutieren und den Fistelstimmen bei den politischen Diskussionen erzählte, hat sie mich prompt ausgelacht: „Das glaubst Du doch selber nicht, dass die nicht wenigstens den einen oder anderen erkennen konnten. Da gab es doch auch welche, die besonders klein, dick, dünn oder groß waren, hinkten oder ihre Marotten hatten!“ Stimmt ja, so „wasserdicht“ wie es das deutsche Datenschutzgesetz sein will, konnte die venezianische Methode gar nicht sein. Eher gab es viele Grauzonen, immer neue Mixturen aus halbgarer Anonymität und halbsicherem gegenseitigem Erkennen, aber mit offenbar meistens funktionierender gegenseitiger Achtung.

Mir gehen zwei weitere Dinge nicht aus dem Kopf:

Spielen mit Anonymität, Pseudonymität oder Zweit-Identitäten werden Menschen bestimmt immer, wie damals erst beim Karneval und der Commedia dell‘ Arte, heute in den Imageboards, in virtuellen Spielwelten und so weiter, selbst wenn Menschen ihr Leben sonst sehr offen führen. Und: Es gibt sicher auch immer den einen oder anderen Lebensstatus, in dem sich ein Mensch so verletzlich fühlt, dass ihm der bloße Blick von außen (vielleicht temporär) einfach zu viel wird. Hoffentlich gibt es dann eine Konvention, ihn mit sich oder ein paar Wenigen eben doch allein zu lassen.

Die Argumentation von Brin schaue ich mir jetzt auf jeden Fall einmal genauer an.

Noch zwei ganz kurze Fragen.

Die erste ist praktischer Natur: Darf ich Ihre Antwort auf den Licence-to-Mask-Blog stellen? Nicht lachen.

Die zweite: Als immerhin eine Möglichkeit, eine Form von „Privacy“ auch in einer Post-Privacy Welt zu erhalten, sehen Sie eine sehr individualistische temporäre Selbstverbergung etwa durch Anonymizer an. Diese hätte dann nicht die historischen Implikationen wie unser Datenschutz, der immer noch „Sphären“ wie überholte patriarchalische (und matriarchalische, ich komme aus dem Münsterland) Familienstrukturen mittransportiert. Freut mich natürlich, weil es dem venezianischen Modell mit seiner Maskierung quer zu den Gesellschaftssphären recht nahekommt. Würden Sie auf dieser Basis denn zustimmen, dass es vielleicht doch positiv ist, wenn der Einzelne wenigstens temporär die Vorhänge zuziehen kann – und sei es, um in Ruhe einen Gedanken auszubrüten, den er selber noch nicht für so fertig hält, dass er ihn fremder Kritik aussetzen will? Selbst wenn das Gefühl, ein Individuum zu sein, ja trügt, sind Einzelne auch in ihrem Weltbild ja so etwas wie potenziell einzigartige Wirkungskonstellationen aus sozialen und anderen Einflüssen, bei denen es sich lohnen könnte, auf ihre eigene Interpretation der Dinge auch einmal ein wenig zu warten. Hirn als Hardware dazu läuft ja leider eher langsam.

Heller:

Nur ganz kurz, weil ich grad im größtenteils internetfreien Urlaub bin:

Ja, Antworten dürfen gern veröffentlicht werden.

„dass es vielleicht doch positiv ist“, klar, ich will gar nicht in Abrede stellen, dass das (mindestens: auch) Vorteile haben kann, wenn es denn gelingt.

(Ende des Dialogs)

Hellers Vorstelllugen von einer möglichen „Privacy im Transparenzzeitalter“ kommen dem venezianischen Maskenwesen wirklich erstaunlich nahe. Im Nachhinien frage ich mich allerdings, ob zumindest in unserer Gesellschaft schon jeder „digital“ souverän und stark genug ist und andererseits die Geselllschaft weit genug ist, dass man auf den Schutz der Privatsphäre durch den Staat verzeichten könnte. Paradebeispiel ist für mich der Mensch im Krankenhaus, der sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung temporär einfach nicht ausüben kann.

Trotzdem. Vielleicht ist es an der Zeit, individuellere Formen von Privacy unter die Lupe zu nehmen. Das viel diskutierte Recht etwa, sich anonym zu informieren und Transaktionen so weit wie möglich ohne Freigabe persönlicher Daten durchzuführen, wird zurzeit nicht sonderlich hoch gehalten. Warum eigentlich?

Maskierte Helden: Burka Avenger

Bis jetzt habe ich mich darum herumgedrückt, in diesem Forschungsblog auf die Burka einzugehen. Die Ganzkörpermaske islamischer Frauen schien mir zur weit entfernt von der Bauta. Immerhin steht die Bauta für eine frühe Form der demokratischen Staatspraxis und erlaubte darüber hinaus, auch durchaus hedonistisch motivierten privaten Interessen nachzugehen. Die Burka dagegen hat einen streng religiös-kulturellen Hintergrund, der, so die gängige und wahrscheinlich zu simple Interpretation, dem europäischen, individualistisch geprägten Freiheitsdenken völlig entgegengesetzt zu sein scheint und Frauenrechte unterdrückt. Der einzige direkte Berührungspunkt schien darin zu liegen, dass sich moderne Menschen in westlichen Kulturen offenbar gegenüber von Burkaträgerinnen, deren Gesicht sie nicht sehen können, ähnlich unbehaglich fühlen wie in früheren Zeiten Nicht-Venezianer angesichts eines Bauta-und-Tabarro-Trägers.

Aber jetzt habe ich über die „maskierten Superhelden“ geschrieben, und da komme ich um „Burka Avenger“ nicht herum.

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„Burka Avenger“ heißt die Heldin einer pakistanischen TV-Comic-Serie – in der Titelrolle eine Lehrerin, die sich nach Catwoman-Manier die Burka überstreift, um genau gegen diejenigen islamistischen Feinde anzugehen, die in Pakistan Frauen in ihre tradtionellen Rollen und damit eben auch in die Burka zurückzwingen wollen. Die Fernsehserie hat eine offizielle Website.

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Wie schwierig zu beurteilen, aber auch wie erfolgversprechend dieser Versuch ist, Freiheit und Bildung in Paskistan zu fördern, hat unter anderem die Zeit herausgearbeitet. Die Wochenzeitung zeigt auch, dass hier durchaus an den Fall der echten Freiheitskämpferin  Malala Yousafzai angeknüpft wird. N24 berichtet: Während die Islamisten die Serie als Angriff als Angriff auf religiöse Werte verstehen, weist der in London lebende, aber in Pakistan als Pop-Star geltende Erfinder der Serie den Zusammenhang mit dem Religiösen einfach zurück: Die Burka sei ein rein kulturelles Phänomen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen und ist im Fluss, aber höchstwahrschenlich geht es hier doch auch um eine Burka-Umdeutung, die bei Traditionalisten als Provokation ankommen muss.

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Darüber, wie die Autoren auf die Idee gekommen sind, die Superheldin in der Burka auftreten zu lassen, verrät dieser Time-World-Beitrag ein wenig mehr. Danach war es erklärtes Ziel, eine maskierte Heldin einzuführen – und damit eine eben ein Frau, die ihre Identität verbirgt. Ein „Catwoman“- oder „Wonder-Woman„-Dress, so Serienerfinder Rashid, hätten in Pakistan aber wahrscheinlich nicht „funktioniert“. So kam man zur Burka als jenem Gewand, dass in der pakistanischen Kultur die vertrauteste Maskenfunktion für eine Frau hat. Das mag nun ein wenig geschwindelt sein, um den oben erwähnten Umdeutungsfaktor kleinzureden – aber dass die Burka auch in Pakistan selbst bereits mit Erfahrungen und Deutungen aus unterschiedlichen, auch westlichen Kuturen betrachtet wird, zeigt die dort gängige Bezeichnung aggressiv-religiös auftretener Burka-Trägerinnen als „Ninja Turtles„, auf die wiederum umdeutend auch der Realname „Jiya“ der Burka-Avenger-Heldin anzuspielen scheint (siehe dazu ebenfalls den bereits genannten Time-World-Beitrag).

Das „Held in Maske“-Modell und die „Burka“ trennen also wohl doch nicht mehr Welten. Wie mächtig das westliche Modell ist, könnte man nun auch daran ablesen, wie die eigentlichen Zielgruppen – nicht die Fundamentalisten – in Pakistan auf die Serie reagieren. Dieser Tageschau-Film lässt darauf schließen, dass zumindest Teile der pakistanischen Bevölkerung die Serie so verstehen, wie es sich der Autor gedacht hat. Er macht aber auch deutlich, dass pakistanische Bürgerrechtlerinnen, die die Burka tragen mussten und dagegen schon länger vorgehen, als es die Serie gibt, einer „Freiheitsheldin in Burka“ nicht so recht folgen wollen. Sie tun sich mit einer interkulturellen Umdeutung schwer.

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Bild in hoher Auflösung – Einbindung der Bilder mit freundlicher Genehmigung des Burka-Avenger-Teams.

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Rollenspiel: Maskierte Helden

Auf den „Gentleman-Faktor“ der Bauta-und-Tabarro-Maske habe ich auf dieser Website schon mehrfach verwiesen: Er stellte einen regulativen Faktor dar, weil er den Maskenträger dazu anhielt, sich gemäß den Erwartungen der Gesellschaft besonders sozialverträglich und sogar vorbildlich zu verhalten.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die „maskierten Helden“, von denen die Literatur-, Theater- und Filmgeschichte so einige kennt.

Zorro passt besonders gut in dieses Bild. Hier trifft die Maske auf das gesamte Spektrum der Mantel-und-Degen-Galanterie, der Maskierte ist ein echter Edelmann im Gegensatz zu seinen Gegenspielern. In der Filminterpretation von 1998 mit Antony Hopkins und Antonio Banderas wird dies sogar explizit thematisiert: Wer die Rolle des Zorro übernehmen will, muss zuerst höfliches und galantes Verhalten lernen, vom richtigen Duell bis zum Benehmen bei Tisch und zum Tanz. Bei Superman und Spiderman ist das Element weniger deutlich, aber doch vorhanden.

Bei Ironman verwandelt sich die Maske in ein technisches Hilfsmittel, das die Verwandlung des Helden erst möglich macht – eine schöne Form der Ingenieurphantasie: Das „Gute“ entsteht aus dem technisch Machbaren, wenn nur ein wenig positive Intention hinzukommt.

Noch interessanter sind vielleicht die maskieren Helden, die in dieses Schema passen, aber eine gewisse Ambivalenz in ihren Handlungsmotiven zeigen: Eher einfach gestrickt sind in dieser Hinsichrt noch Batman und Catwoman, weit vielschichtiger dann das „Phantom der Oper“ und vor allem „V“ aus „V wie Vendetta„, der so wichtig wurde für die Anonymous-Bewegung. Bei „V“ referenzieren sowohl der Comic als auch der Film das gesamte Galanterie- und Mantel-Degen-Repertoire bereits in den ersten Szenen, allerdings ist es hier reines Schauspiel des Helden und grenzt ihn nicht mehr seinen Handlungsspielraum ein. Oder vielleicht doch?

Spannend zu wissen wäre, ob der „maskierte Held“ einen mythologischen Hintergrund hat – für die Superhelden an sich gibt es ihn ja. Vielleicht steht das Motiv des „maskierten Helden“ ja bereits für einen modernen Mythos?

Anmerkung 15.05.2014: Siehe herzu auch die späteren Beiträge Burka Avenger und Lone Ranger.

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Anonymität und Denunziation

Venedig war nicht nur eine Stadt der Anonymität, sondern auch ein Ort der Denunziation. Am Dogenpalast und anderen Plätzen der Stadt waren spezielle Briefkästen installiert, die “Löwenmäuler” (Bocca di Leone).

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Sie waren dazu vorgesehen, unterschiedlichste Beschwerden an die Staatsmacht zu richten. Sie dienten dabei auch dazu, dass  Venezianer andere Venezianer möglichst leicht gegenüber der Obrigkeit anschwärzen konnten. Jeder Denunziant konnte darauf zählen, dass seine Identität geheimgehalten wurde, anonyme Anzeigen allerdings fanden nur in schwerwiegenden Ausnahmefällen Beachtung. Verfolgt wurden die Anschuldigungen von der Staatsinquisition und dem “Rat der Zehn”, der zeitweise oberste Polizeibehörde und oberstes Gericht zugleich war.

Waren Bauta und Tabarro vielleicht auch ein Instrument, um ein Gegengewicht gegen das Denunziantentum und besonders neugierige, schwer zu kontrollierende Institutionen der Staatsmacht zu schaffen?

Dafür müsste man zunächst einmal Belege suchen. Wäre es der Fall, dass die Venezianer diese Verbindung sahen, steckte darin eine interessante Parallele zur heutigen Internetwelt. Die Forderung nämlich, sich im Internet anonym bewegen zu können und zu dürfen, beruht ja nicht zuletzt auf dem Gefühl der Netznutzer, von allzu vielen staatlichen und kommerziellen Lauschern auf Schritt und Tritt überwacht zu werden. Technisch gewährleistete Anonymität soll aus ihrer Sicht ein Mittel gegen das Ungleichgewicht der Kräfte zwischen den mächtigen spionierenden und Profile bildenden Organisationen und den unbescholtenen Bürgern im Netz bilden.

Wie bekommt man nun heraus, ob die Venezianer tatsächlich so dachten? Gibt es mehr Belege, dass zu viel Überwachung die Forderung nach Anonymität als Regulativ nach sich zieht – wie jetzt wieder nach der Aufdeckung des Datenhungers der westlichen Geheimdienste? Interessantes Forschungsthema, eventuell gibt es ja schon Arbeiten dazu.

Edward Snowdon jedenfalls ist aus dieser Perspektive eine Art „umgekehrter Denunziant“ oder Whistleblower – er hat Missstände nicht einer etablierten Institution, sondern dem eigentlichen Souverän der westlichen Welt, also den Wählern in demokratischen Staaten gemeldet. Interessante Konstellation!

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Maske und freie Meinungsäußerung: Oscar Wilde

Ein schönes Oscar-Wilde-Zitat: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er sagt die Wahrheit.“

Das müssen die Venezianer wohl auch im Sinn gehabt haben, als sie in politischen Gremien das Erscheinen in Bauta und Tabarro zur Pflicht machten und sich angewöhnten, dabei zusätzlich mit verstellter Stimme zu sprechen.

Die Maskierung bei der politischen  Aussprache wirkte also nicht nur auf die jeweiligen Zuhörer, die die Person des Sprechenden nicht recht einschätzen und deshalb nur seine Argumente abwägen konnten, sondern auch auf den Sprecher selbst, der geschützt durch die Verkleidung auf Bedingungen wie sein persönliches soziales Umfeld und die Zwänge seiner näheren Lebenumstände keine Rücksicht nehmen musste.

Heißt auch: Man kann tatsächlich nicht einfach sagen, Maskierung und anonymes Auftreten wirkten immer und automatisch deindividualisierend. Manch einer vertrat vielleicht nur hinter Bauta und Tabarro seine innersten Überzeugungen.

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Signora Maschera war ein Gentleman

Offenbar hielt sich der Missbrauch der venezianischen Gesellschaftsmaske immer in einem sozial erträglichen Rahmen, sonst hätten die Venezianer an ihr nicht festgehalten bis schließlich die Österreicher in Italien einmarschierten und die Politik und Kultur der Inselstadt grundlegend änderten. Ein kleines Rätsel ist es dabei schon, dass das Anonymisierungsmittel “Bauta” so gut funktionierte, denn eine Gelegenheit zum anonymen Handeln bedeutet immer auch eine Versuchung zu antisozialem, egoistischem Verhalten. M.E. Kabay etwa verweist in Anlehnung an die Deindividuationstheorie darauf, dass praktische Anonymität Unhöflichkeit, Unehrenhaftigkeit und aggressives Benehmen fördern kann und der Selbstreflexion entgegenwirkt (seinen Essay finden Sie unter den Quellen).

Ich habe schon erwähnt, dass einer der Gründe für die geringe, durchaus tolerierbare Missbrauchsrate der Bauta in der Tatsache begründet liegt, dass die Venezianer als Maskenträger den Regeln und Erwartungen der Gesellschaft eben nicht entgingen. Außerdem konnten, was allerdings eine extreme Maßnahme gewesen sein dürfte, im Fall der Fälle recht einfach demaskiert werden. Man sollte vielleicht aber noch etwas bedenken, wenn man sich fragt, warum die Venezianer auch als Maskenträger ihre guten Manieren behielten: Mit dem Anziehen der Bauta verließen sie ihre individuelle Existenzform und spielten stattdessen die Rolle eines idealtypischen Stadtadeligen.

Bauta - Carnevale Venezia 2011

Bild: Fotolia.com, Gloria Guglielmo
 

Die Rolle der „Signora Maschera“ war nicht nur, wie schon erwähnt, generischer Natur und vordefiniert, sondern verlangte auch, sich im Verhalten dem idealisierten Modell eines noblen Patriziers anzunähern. Hier gibt es sicherlich Parallelen zu alten Vorstellungen vom „perfekten Gentleman“ mit seinem perfekten Stil und ausgefeilten Manieren. Bei Karbe und Toscani (siehe Quellen) finden sich Hinweise darauf, dass sich venezianische Bauta-Träger bewusst höflich und ritterlich gaben und dass sie Wert darauf legten, sich in der Maske elegant zu bewegen und auch in ihrer Kommunikation mit den Mitbürgern so elegant wie möglich zu wirken.

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