Jeder kann jeder sein

Jeden Morgen beim Brötchenholen stehe ich an der gleichen Ampel. Neulich pappte ein neuer Aufkleber dran.

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Irgendwie mal was anderes als die übliche flüchtige Katze, der nächste Anti-Nato-Protest oder „suche zwei Zimmer mit Bad“.

Länger hingeschaut habe ich wegen der Kombination aus „anybody can be anybody“ und „Psychologie“. Das erinnerte mich daran, dass eine Maskierung manchmal gehemmten Menschen helfen kann, aus sich herauszukommen oder ihre Meinung zu sagen. Anonymität und Rollenspiel schaffen eben nicht nur ein Paradies für Feiglinge, sondern auch eine Schutzzone für Schüchterne.

Also was steckt nun hinter dem Zettel?

Werbung für ein Buch und ein Therapieangebot, der Aufkleber propagiert die so genannte Würfeltherapie.

Sie geht davon aus, dass jeder Mensch das Potenzial hat, unterschiedliche Persönlichkeitstypen auszuleben. Handlungsentscheidungen konsequent Würfeln zu überlassen, soll deshalb Personen  helfen, die in engen Handlungsmustern gefangen sind und deshalb keinen Zugang zu den Möglichkeiten ihres Ichs haben.

Eine „Erfolgsgeschichte“ auf der Seite „Spiel mit dem Zufall“ berichtet denn auch von einem Kellner, der auf Jobsuche geht und vor jedem Lokal, auf das er trifft, die Würfel befragt, ob er hineingehen und nach einer freien Stelle fragen soll. Natürlich gerät er so an ein Restaurant, in das er sich ohne Zufallsentscheid nie hineingetraut hatte, und wird glücklich.

Irgendwie ein seltsames Konzept. Aber es zeigt immerhin, dass viele Menschen einem „Spiel“ mit ihrer Identität positive Seiten abgewinnen.

You only live x+1 times: Masken in LinkedIn und Second Life

Als ich vor Jahren den ersten Beitrag zu diesem Blog schrieb, fragte ich: „Warum tragen Avatare Masken?

Ich hatte damals entdeckt, dass es in der virtuellen Welt „Second Life“ für Linden-Dollars eine komplette Bauta-und-Tabarro-Verkleidung zu kaufen gab.

Wozu? War nicht Second Life selbst schon eine Welt für Avatare? Dort liefen die unterschiedlichsten Verkörperungen von Anwendern herum, von Tiergestalten über typische Nerds bis zu Figuren, die sich einen bis ins Letzte durchgestylten Idealkörper zugelegt hatten.

Wozu sollte sich so ein zweites Ich dann noch eine Maske zulegen?

Antwort: Um mit der eigenen Identität noch besser spielen zu können. Es macht Spaß, sich gezielt zu maskieren und wieder zu demaskieren und vielleicht auszuprobieren, ob jemand anderer einen erkennt.

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Avatare bekommen auf Dauer ja auch so etwas wie eine eigene Geschichte und feststehende Identitätsmerkmale, vor allem wenn sie sich wieder und wieder mit den gleichen Avataren treffen. „Man lebt nur zweimal“ – mit Bauta und Tabarro als generischer Verkleidung in einer virtuellen Welt kann man diese Grenze auf eine noch andere Weise  Weise durchbrechen, als wenn man „nur“ mit mehreren Avataren jongliert. So etwas ist vielleicht auch ein Akt der „informationellen Selbstbestimmung“.

Meine eigene virtuelle Bauta-und-Tabarro-Verkleidung hatte ich damals im Treppenhaus der ebenfalls virtuellen Second-Life-Repräsentanz der Bayerischen Staatsbibliothek fotografiert, sie fungiert noch immer als Titelbild des Blogs. Die Nachbildung der Bibliothek existierte übrigens nicht lange – und inzwischen habe ich Second Life auch schon ewig nicht mehr aufgesucht.

Dafür ist mir jetzt aufgefallen, dass auch in LinkedIn Maskenträger unterwegs sind. Damit meine ich nicht etwa die, die gar kein Bild von sich hochladen – weil sie gerade keines zu Hand haben, die existierenden nicht mögen oder einfach nicht wollen, dass Besucher ein Foto zu sehen bekommen.

Das sieht dann immer gleich aus, und zwar so:

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Ich meine LinkedIn-Mitglieder, die sich bewusst als maskiert präsentieren.

Einige verwenden Avatare:

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Einige geben sich sportlich:

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Einige spielen mit skurrilen oder leicht beängstigenden Assoziationen:

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Andere wählen Masken aus der Filmwelt, die mit besonderer Bedeutung aufgeladen sind:

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Und noch andere spielen mit Photoshop-Effekten:

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Die Beispiele sind willkürlich aus einer Liste vorgeschlagener Kontakte ausgewählt, die LinkedIn mir irgendwann zum Jahreswechsel 2015-2016 präsentiert hat.

Was sagt nun wieder das?

Ich konnte nicht feststellen, dass der Griff zum Maskenbild beispielweise mit eher restriktiv bestückten Profilen zusammenfiel.

Handelt es sich um ein Statement nach dem Motto: Ihr denkt jetzt, Ihr kennt mich, weil ich hier ein Profil eingestellt habe, aber da täuscht Ihr Euch – ich modelliere mein Profil, wie ich es für richtig halte?

Vielleicht frage ich irgendwann einmal bei dem einen oder anderen Maskierten nach.

Maskierte Helden vs. maskierte Bürger

Maskierte Helden“ aus der Literatur- und Mediengeschichte waren immer einmal wieder Thema in diesem Blog. Meist ging es dabei um den idealisierenden „Gentleman-Faktor„, der sie mit den venezianischen Bauta-Trägern verbindet.

Es ist aber auch wichtig, sich den Unterschied zu vergegenwärtigen: Die Bauta hatte einen egalisierenden und machtregulierenden Effekt innerhalb der venezianischen Oberschicht, während sich die maskierten Helden meist außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der Gesetze ihres Umfelds stellten. Waren sie absolut gut, war dies im jeweiligen Geschichtenkosmos kein Problem. Hin und wieder – Batman ist hier in gutes Beispiel – wurde aber doch das inhärente Problem thematisiert, dass sie auch zu persönlich begründeter Selbstjustiz oder Machtmissbrauch greifen konnten, weil sie sich meist komplett außerhalb der sozialen und gesetzlichen Kontrolle bewegten und überdies ja oft über außergewöhnliche Kräfte verfügten.

Die Bautaträger dagegen bildeten eine besondere Bürgergemeinschaft und unterlagen durchaus sozialen Kontrollen und unterwarfen sich ihnen freiwillig.

 

Mehr Bilder…

Bauta und Tabarro – die Anonymitätskultur der Venezianer ist uns so fremd, dass mehr Bilder von Bauta-Trägern sicher hilfreich wären, um einen intuitiven Zugang zu finden. Alte Gemälde habe ich hier und da verlinkt, aber was hilft das schon? Wir sind Fotos und Videos gewöhnt, um uns ein persönliches Bild von einer fremden Sache zu machen.

Aber das ist nicht einfach: Sicher laufen im heutigen Karneval in Venedig hier und da Personen herum, die die traditionelle Bauta-und-Tabarro-Verkleidung als ihre Maske wählen. Nur gibt es davon selten Fotos, weil andere Masken den Fotografen viel phantasievoller und attraktiver erscheinen.

In den vergangenen Tagen habe ich eine ganze Reihe von Foto-Plattformen nach aktuellen Bildern von Bauta-und-Tabarro-Trägern durchsucht. Die Ausbeute war gering – aber schön. Ein Bild habe ich bereits in den „Gentlemen“-Beitrag eingefügt, weil es dort so gut hineinpasst.

Zwei weitere Bilder mag ich Ihnen nicht vorenthalten.

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Quelle: fotolia.com, missiaja

Ein wenig zu theatralisch? Aber so soll die Verkleidung ja wirken, sie ist Teil eines Spiels! Das nächste Bild wirkt nüchterner.

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Quelle: fotolia.com, dagmenico
 

Ein neutrales Anonymisierungsmittel ist die Bauta aber nie. Zusammen mit dem Umhang strahlt sie immer eine gewisse Eleganz und Noblesse aus – was sie ja auch soll.

Randnotiz aus Zagreb

Zagreb, Sonntag, 1.12.2013 – hier hat der Weihnachtsmarkt gerade geöffnet. Hinter den Buden mit der riesigen Würstchenauswahl ein Optikergeschäft mit dem Outshine-Plakat der Ray-Ban-Werbekampagne „Never Hide“.

Outshine - Ray-Ban-Plakat

Laut Ray Ban (siehe Link oben) hat man für das Motiv echte Rockmusiker zusammengeholt. Die Band spielt, ein Mitglied springt völlig nackt auf die Bühne, posiert dabei zum Publikum hin und hat sich dazu den Schriftzug „Smile“ auf die Brust gemalt.

Interessant ist der Kampagnentitel „Never Hide“. Er spielt damit, dass der Brillenträger zwar definitiv nichts von sich versteckt, wohl aber die Augen hinter den spiegelnden Brillengläsern. Diese „Maske“ allerdings ist kein vollkommenes Anonymisierungsmittel – zumindest, wer den Träger kennt, dürfte ihn problemlos identifizieren können. Die Brille setzt eher ein distanzierendes Zeichen: „Das bin ich, aber als Kunstfigur“. Oder: „Das hier ist eine Performance. Ich bin das nicht einfach, sondern ich stelle mich jetzt und hier bewusst so dar, ich setze ein Statement“.

„Never Hide“: Hier geht jemand aus sich heraus, versteckt sich nicht, aber tut es in einem expliziten und modellierten Akt der Selbstveröffentlichung und Selbstpräsentation, der als solcher Akzepanz verlangt. Auch eine Form der informationellen Selbstbestimmung, und sie erinnert irgendwie an die späte Praxis der Venezianer, sich nicht mehr komplett zu maskieren, sondern nur noch eine Spielkarte seitlich unter den Hut zu klemmen und so zu signalisieren: Jetzt gelte ich als maskiert, ich spiele eine Rolle, bitte akzeptiert das und behandelt mich entsprechend.

Maskierte Helden: Burka Avenger

Bis jetzt habe ich mich darum herumgedrückt, in diesem Forschungsblog auf die Burka einzugehen. Die Ganzkörpermaske islamischer Frauen schien mir zur weit entfernt von der Bauta. Immerhin steht die Bauta für eine frühe Form der demokratischen Staatspraxis und erlaubte darüber hinaus, auch durchaus hedonistisch motivierten privaten Interessen nachzugehen. Die Burka dagegen hat einen streng religiös-kulturellen Hintergrund, der, so die gängige und wahrscheinlich zu simple Interpretation, dem europäischen, individualistisch geprägten Freiheitsdenken völlig entgegengesetzt zu sein scheint und Frauenrechte unterdrückt. Der einzige direkte Berührungspunkt schien darin zu liegen, dass sich moderne Menschen in westlichen Kulturen offenbar gegenüber von Burkaträgerinnen, deren Gesicht sie nicht sehen können, ähnlich unbehaglich fühlen wie in früheren Zeiten Nicht-Venezianer angesichts eines Bauta-und-Tabarro-Trägers.

Aber jetzt habe ich über die „maskierten Superhelden“ geschrieben, und da komme ich um „Burka Avenger“ nicht herum.

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Bild in hoher Auflösung

„Burka Avenger“ heißt die Heldin einer pakistanischen TV-Comic-Serie – in der Titelrolle eine Lehrerin, die sich nach Catwoman-Manier die Burka überstreift, um genau gegen diejenigen islamistischen Feinde anzugehen, die in Pakistan Frauen in ihre tradtionellen Rollen und damit eben auch in die Burka zurückzwingen wollen. Die Fernsehserie hat eine offizielle Website.

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Bild in hoher Auflösung

Wie schwierig zu beurteilen, aber auch wie erfolgversprechend dieser Versuch ist, Freiheit und Bildung in Paskistan zu fördern, hat unter anderem die Zeit herausgearbeitet. Die Wochenzeitung zeigt auch, dass hier durchaus an den Fall der echten Freiheitskämpferin  Malala Yousafzai angeknüpft wird. N24 berichtet: Während die Islamisten die Serie als Angriff als Angriff auf religiöse Werte verstehen, weist der in London lebende, aber in Pakistan als Pop-Star geltende Erfinder der Serie den Zusammenhang mit dem Religiösen einfach zurück: Die Burka sei ein rein kulturelles Phänomen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen und ist im Fluss, aber höchstwahrschenlich geht es hier doch auch um eine Burka-Umdeutung, die bei Traditionalisten als Provokation ankommen muss.

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Bild in hoher Auflösung

Darüber, wie die Autoren auf die Idee gekommen sind, die Superheldin in der Burka auftreten zu lassen, verrät dieser Time-World-Beitrag ein wenig mehr. Danach war es erklärtes Ziel, eine maskierte Heldin einzuführen – und damit eine eben ein Frau, die ihre Identität verbirgt. Ein „Catwoman“- oder „Wonder-Woman„-Dress, so Serienerfinder Rashid, hätten in Pakistan aber wahrscheinlich nicht „funktioniert“. So kam man zur Burka als jenem Gewand, dass in der pakistanischen Kultur die vertrauteste Maskenfunktion für eine Frau hat. Das mag nun ein wenig geschwindelt sein, um den oben erwähnten Umdeutungsfaktor kleinzureden – aber dass die Burka auch in Pakistan selbst bereits mit Erfahrungen und Deutungen aus unterschiedlichen, auch westlichen Kuturen betrachtet wird, zeigt die dort gängige Bezeichnung aggressiv-religiös auftretener Burka-Trägerinnen als „Ninja Turtles„, auf die wiederum umdeutend auch der Realname „Jiya“ der Burka-Avenger-Heldin anzuspielen scheint (siehe dazu ebenfalls den bereits genannten Time-World-Beitrag).

Das „Held in Maske“-Modell und die „Burka“ trennen also wohl doch nicht mehr Welten. Wie mächtig das westliche Modell ist, könnte man nun auch daran ablesen, wie die eigentlichen Zielgruppen – nicht die Fundamentalisten – in Pakistan auf die Serie reagieren. Dieser Tageschau-Film lässt darauf schließen, dass zumindest Teile der pakistanischen Bevölkerung die Serie so verstehen, wie es sich der Autor gedacht hat. Er macht aber auch deutlich, dass pakistanische Bürgerrechtlerinnen, die die Burka tragen mussten und dagegen schon länger vorgehen, als es die Serie gibt, einer „Freiheitsheldin in Burka“ nicht so recht folgen wollen. Sie tun sich mit einer interkulturellen Umdeutung schwer.

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Bild in hoher Auflösung – Einbindung der Bilder mit freundlicher Genehmigung des Burka-Avenger-Teams.

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Rollenspiel: Maskierte Helden

Auf den „Gentleman-Faktor“ der Bauta-und-Tabarro-Maske habe ich auf dieser Website schon mehrfach verwiesen: Er stellte einen regulativen Faktor dar, weil er den Maskenträger dazu anhielt, sich gemäß den Erwartungen der Gesellschaft besonders sozialverträglich und sogar vorbildlich zu verhalten.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die „maskierten Helden“, von denen die Literatur-, Theater- und Filmgeschichte so einige kennt.

Zorro passt besonders gut in dieses Bild. Hier trifft die Maske auf das gesamte Spektrum der Mantel-und-Degen-Galanterie, der Maskierte ist ein echter Edelmann im Gegensatz zu seinen Gegenspielern. In der Filminterpretation von 1998 mit Antony Hopkins und Antonio Banderas wird dies sogar explizit thematisiert: Wer die Rolle des Zorro übernehmen will, muss zuerst höfliches und galantes Verhalten lernen, vom richtigen Duell bis zum Benehmen bei Tisch und zum Tanz. Bei Superman und Spiderman ist das Element weniger deutlich, aber doch vorhanden.

Bei Ironman verwandelt sich die Maske in ein technisches Hilfsmittel, das die Verwandlung des Helden erst möglich macht – eine schöne Form der Ingenieurphantasie: Das „Gute“ entsteht aus dem technisch Machbaren, wenn nur ein wenig positive Intention hinzukommt.

Noch interessanter sind vielleicht die maskieren Helden, die in dieses Schema passen, aber eine gewisse Ambivalenz in ihren Handlungsmotiven zeigen: Eher einfach gestrickt sind in dieser Hinsichrt noch Batman und Catwoman, weit vielschichtiger dann das „Phantom der Oper“ und vor allem „V“ aus „V wie Vendetta„, der so wichtig wurde für die Anonymous-Bewegung. Bei „V“ referenzieren sowohl der Comic als auch der Film das gesamte Galanterie- und Mantel-Degen-Repertoire bereits in den ersten Szenen, allerdings ist es hier reines Schauspiel des Helden und grenzt ihn nicht mehr seinen Handlungsspielraum ein. Oder vielleicht doch?

Spannend zu wissen wäre, ob der „maskierte Held“ einen mythologischen Hintergrund hat – für die Superhelden an sich gibt es ihn ja. Vielleicht steht das Motiv des „maskierten Helden“ ja bereits für einen modernen Mythos?

Anmerkung 15.05.2014: Siehe herzu auch die späteren Beiträge Burka Avenger und Lone Ranger.

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Maske und freie Meinungsäußerung: Rollenspiel für die Schüchternen

Interessante Beiträge in der Zeitschrift „Psychologie Heute„: Offenbar gelingt es introvertierten, eher schüchternen Menschen recht leicht, die Rolle einer extrovertierten, forschen Person zu spielen und entsprechend zu agieren, wenn man sie erst einmal auf die Idee gebracht hat und ein wenig bei diesem Vorhaben unterstützt. Das Rollenspiel bietet ihnen eine faszinierende Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Persönlichkeit einfach zu sprengen. Der Beitrag berichtet von Personen, denen dies im Berufsleben fortwährend gut gelingt, während sie im Privatleben eher ihrem Naturell treu bleiben.

Extrovertierte, dominante Personen, die zum Beispiel zur Förderung der Leistung eines Teams auch einmal den vorsichtigen Zuhörer geben sollen oder wollen, bekommen das erstaunlicherweise weniger gut hin.

Wussten die Venezianer dies schon? Bauta und Tabarro boten auch Personen, die Streit und Auseinandersetzungen eher abgeneigt waren und dabei im „richtigen Leben“ regelmäßig zu verstummen oder zu unterliegen drohten, eine echte Chance, im politischen Meinungsbildungsprozess ihre Sache zu vertreten. Ob dieses Phänomen intentional eine Rolle für die Pflicht zum Tragen von Bauta und Tobarro in politischen Gremien gespielt hat, ist wohl nicht mehr herauszufinden. Es ist nur interessant, dass das venezianische Anonymitätsmodell den Nebeneffekt, die Schüchternen in den politischen Entscheidungsfindungsprozess besser zu integrieren, einfach hatte.

Die Beiträge:

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Rollenspiel: Die symbolische Maske

Ein Aspekt, den ich bei Toscani (siehe Quellen, S. 223-225) bisher immer überlesen hatte: Ganz zum Ende der Zeit, in der die Venezianer sich der Bauta-und-Tabarro-Verkleidung bedienten, änderte sich der Gebrauch. Erst wurde der Ausschnitt für die Augen wurde immer größer, dann wurde die Maske immer kürzer. Irgendann konnte sie den ursprünglichen Zweck, den Träger unkenntlich zu machen, nicht mehr erfüllen.

Schließlich, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gingen die Venezianer sogar noch einen Schritt weiter: Sie klemmten die Bauta in die Falte des Dreispitz oder schoben sie zwischen Schläfe und Hut. Am Ende zeigten sie nur noch durch eine weiße Spielkarte an, dass sie als „maskiert“ zu gelten hatten.

Und genau das wurde dennoch respektiert. Die Übernahme der Rolle, der Übergang in ein „zweites Leben“, fand symbolisch statt, und die anderen Venezianer spielten das durchaus ästhetische Spiel eines fließenden Wechsels zwischen zwei sozialen Existenzformen mit.

Für die hier diskutierte Phase, in der Bauta und Tabarro echte Anonymisierungsmittel waren, ist die Zeit der „symbolischen Maskierung“ nicht mehr so interessant. Sie zeigt aber, wie stark und wichtig in diesem Modell der Rollenspiel-Aspekt immer gewesen sein muss.

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Trust in Adherence to a Predefined Role – EIC 2013

Am 16. Mai 2013 war ich auf Einladung von Jörg Resch nach meinem Vortrag 2010 wieder einmal Gast der European Identity Conference, um über das venezianische Anonymitätsmodell zu sprechen.

Es ging dieses Mal vor allem darum, herauszufinden, warum das venezianische Anonymitätsmodell funktionierte und keine übermäßig erhöhte Kriminalitätsrate hervorbrachte. Die Grundthese war – wie schon in früheren Beiträgen dieses Blogs – dass das auch von Ignatio Toscani bereits behandelte Rollenspiel-Element hier als stabilisierender Faktor wirkte:

  • Bauta und Tabarro wurzeln historisch im Karneval und den Rollenspielen der Commedia dell’Arte. Die Venezianer kannten beides und waren daran gewöhnt.
  • Die Maske als Anonymisierungsmittel einzusetzen, bedeutete eine bedachte Handlung: Man musste sich gekonnt „verkleiden“, was ein wenig Aufwand und Zeit kostete. Die Maske dann zu tragen, bedeutete zugleich Versteck zu spielen und auf sich aufmerksam zu machen.
  • Die Rolle des „idealen venezianischen Bürgers“ zu übernehmen bedeutete auch, das Betragen eines Gentlemans anzunehmen.
  • Venezianer, die mit einem Bauta-Träger kommunizierten, konnten darauf vertrauen, dass er seine spezielle politische und gesellschaftliche Rolle akzeptierte und sich in seinem Verhalten an die daran geknüpften Spielregeln hielt.
  • Bei Missbrauch waren Sanktionen möglich.
  • Die Bauta anzulegen, bedeutete also, bewusst soziale Kontrolle und sozale Erwartungen zu akzeptieren.  Es bedeutete auch, eine mögliche Demaskierung, einen damit verbundenen Ehrverlust und den unmittelbaren  Ausschluss aus der venezianischen Gemeinschaft als Sanktion bei Missbrauch der Privilegien zu akzeptieren, die die Bauta bot.
  • Somit war mit der Maske ein direkter und unvermeidlicher Einfluss auf das Verhalten der Träger verbunden.

Die gesamte Präsentation steht hier zum Download zur Verfügung.

In der Diskussion, die sich an den Vortrag anschloss, interessierten sich die Zuhörer für das dem Anonymitätsmodell zugrundeliegende Reputations- und Sanktionssystem. Ein gewöhnliches „Belohnungsystem“ liegt insofern nicht vor, als das erwartete Verhalten eines Maskierten aus Sicht der Venezianer einfach „normal“ war. Sozialer Druck allerdings existierte als Korrektiv sehr wohl, und die Teilnehmer fanden es interessant, dass die Strafe für Fehlverhalten den Delinquenten unmittelbar in seine reale, nicht anonymisierte Existenz zurückwarf und dort Folgen hatte.

Andererseits schloss eine Demaskierung nicht aus, dass der Düpierte neu maskiert wieder am anonymen Leben teilnahm, sofern es ihn nicht ins Gefängnis verschlug. Aufs anonyme Leben beuogen, existierte also eine rein verhaltensbasierte Sicherheit. Dies, da stimmten die Zuhörer zu, könne man auf anonyme Plattformen im Internet übertragen: Wer sich schlecht benimmt, wird einfach ah hoc ausgeschlossen. Ist der Neu-Anmeldeprozess nur mühsam genug, könnte die pure Lästigkeit der Sanktion möglicherweise wirksam für Wohlverhalten sorgen.

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