Den Begriff „Informationelle Selbstgestaltung“ habe ich bei Michael Nagenborg entdeckt. Er war Teil des Titels seines Vortrags auf der Konferenz „Die Zukunft der informationellen Selbstbestimmung„, an der ich im November in Berlin ebenfalls als Referent teilgenommen habe.
Den Vortrag selbst habe ich leider nicht gesehen, aber der Autor hat mir Manuskripte dazu zugänglich gemacht. Er befasst sich darin mit Aspekten der Selbstgestaltung und der „Erweiterung des Geistes“ durch Technik. Er plädiert dafür, diese Möglichkeiten ernst zu nehmen und fragt vor diesem Hintergrund danach, ob man den Anwendern zu viel Freiheit nimmt, wenn ihnen etwa durch das Design von Social-Media-Tools von vornherein einen restriktiven Umgang mit persönlichen Informationen nahelegt. Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, verneint er dies am Ende, weil die entsprechende Design-Entscheidung ja das Ziel hat, die Freiheit der Anwender zu sichern. Ein spannendes Thema!
Mir hilft der Begriff „Informationelle Selbstgestaltung“ zur Zeit dabei, ein paar andere Gedanken auf den Punkt zu bringen, die in diesem Blog schon lange eine zentrale Rolle spielen.
Als vor einiger Zeit in einer Diskussion einmal wieder jemand darauf beharrte, dass die Zeit des Datenschutzes ohnehin vorbei sei und „informationelle Selbstbestimmung“ nicht mehr als eine romantische Illusion darstelle, ist mir mit Blick auf die „Masken“ endlich einmal eine Antwort eingefallen, die den Diskussionspartner tatsächlich erst einmal verstummen ließ:
„So lange Menschen noch an ihrem Image feilen, mit Masken spielen, sich ändern oder dann und wann neu verwirklichen wollen, so lange werden sie auch versuchen, die Informationen zu kontrollieren, die sie an ihre Umgebung senden. Und dabei sollte man sie fairerweise unterstützen, denn sonst sperrt man sie in einem Kokon an zugewiesenen Eigenshaften ein, den sie nicht mehr beeinflussen können.“
Kurios – diese aktive Seite der informationellen Selbstbestimmung haben sowohl Datenschutzaktivisten als auch ihre Gegner noch immer recht selten auf dem Radar. Dabei kennt man das Modell doch schon lange von Künstlern: David Bowie und Madonna etwa haben sich teils als Kunstfiguren, teils als künstlerisches „Ich“ immer wieder neu erfunden und dabei mit allen möglichen Identitätsaspekten gespielt.
Blogger betrachten ihr Tun zuweilen unter ähnlichen Aspekten. Sebastian Flotho etwa versteht seinen Seppolog auch als eine Art Maske, seinen passenden Beitrag dazu habe ich vor einiger Zeit hier eingebunden.
Und auch in den sozialen Netzwerken modellieren sich die Nutzer ihr Bild immer wieder selbst – bei den Business-Netzwerken LinkedIn und Xing, um den nächsten Job oder neue Geschäftsgelegenheiten zu ergattern, und auf Facebook, um in der Clique, der Familie oder ganz seriös im Freundeskreis ein gutes Bild abzugeben und „dazuzugehören“.
Alles Lüge? Alles nur Schau? Übles Selbst-Marketing? Betrug? Müsste man verbieten?
Unsinn, nur im Falle eines kriminellen Missbrauchs.
Eigenartig, heftige ethische Beurteilungen oder besser Ver-Urteilungen bekomme ich angesichts der penibel optimierten Web-Visitenkarten einzelner Menschen immer wieder zu hören. Dabei hat es das Feilen am öffentlichen Bild seiner selbst doch schon seit jeher gegeben, früher eben mittels passender oder gewollt unpassender Kleidung und Frisuren, mit Hilfe passender oder gewollt unpassender Mopeds oder Autos, der Wahl der Freundeskreise und der Freizeitaktivitäten und durch gezielte Modulation der eigenen Kommunikationspraktiken.
Meine Mutter etwa hat mir in den 60ern und 70ern vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kein Westfälisches Platt beigebracht, obwohl sie es konnte. Ich sollte konsequent hochdeutsch reden. Um höher zu kommen. Dann habe ich Germanistik studiert. Danach war ich Journalist, schreibe noch immer allerlei Zeug und verfasse zu allen Überfluss diesen Blog. Hatte sie recht? Alles ein Graus.
Die Grenze zwischen oberflächlicher Image-Pflege und echter, ehrlicher Arbeit am Selbst war bei Bestrebungen dieser Art immer fließend. Beides beeinflusst sich gegenseitig. Irre ich mich, oder gab es neben den verschiedenen Facetten des Altruismus in fast allen anerkannten und diskutierten Ethiken nicht immer wieder auch die Zielvorgabe für den Einzelnen, das Beste aus sich selbst herauszuholen?
Erstaunlich finde ich auch, wie intolerant ein gewisser Teil der kleinen oder großen Öffentlichkeit unserer Zeit auf Missgriffe Jugendlicher in Sachen Selbstdarstellung im Internet reagiert. Ich denke dabei vor allem an die immer wieder thematisierten Suff- und Party-Fotos auf Facebook.
Da könnte genau die Generation, die sich darüber heute so künstlich aufregt und dem einen oder anderen „Delinquenten“ aufgrund solcher Funde womöglich eine ersehnte Anstellung verweigert, ganz gut von den Gemeinschaften der alten Dörfer lernen, wo auch jeder jeden kannte.
Wer darf, setze sich einmal bei einem Schützenfest oder einer anderen Feier an den Tisch und lausche den Gesprächen.
Irgendwann kommen mit Sicherheit Geschichten zur Sprache, bei denen es um die Untaten der einen oder anderen Göre oder des einen oder anderen schlimmen Jungen in der Vergangenheit geht – da hat er oder sie geklaut, ist auf den Kirchturm gestiegen oder hat stark alkoholisiert noch ganz andere üble Dinge verübt.
Oft genug kommt dann aber ebenso selbstverständlich die Auskunft hinterher, was aus der fraglichen Person doch später für ein feiner oder erfolgreicher Mensch geworden sei. Nachtragend ist man da eher selten.
So viel Fairness wird in Sachen Internet-Selbstdarstellung wohl erst herrschen, wenn aus jener Generation, die heute mit „ungeeigneten“ Selbstpräsentationen auf Facebook von sich reden macht, mehr Personen selbst Chefpositionen erreicht haben. Das dauert zum Glück wohl nicht mehr so lange. Das neue europäische „Recht auf Vergessenwerden„, das es erlaubt, altes und dem eigenen Image inzwischen wenig förderliches Zeugs aus Suchmaschinenergebnissen löschen zu lassen, ist da kein echter Ersatz für menschliche Toleranz und Weisheit.
Was natürlich durchaus zu Buche schlägt, ist die Tatsache, dass eine Internet-Selbstpräsentation auf eine weit weniger begrenzte Beurteilerschar trifft als das Benehmen in einem ländlichen Dorf der 50er Jahre. Aber dass die Prinzipien vergleichbar sind, lasse ich mir nicht ausreden.
Randnotiz wegen plötzlichem Geistesblitz:
Muss ich mir jetzt eigentlich alle Tolkien-Bücher, Star-Trek-Folgen und Comics, in denen Formwandler vorkommen, noch einmal auf philosophische Implikationen hin anschauen? Ob beim Formwechsel Aspekte der informationellen Selbstgestaltung im Spiel sind?
Verlockend.
Bis dann, wir sehen uns 2020. Oder später.
…
OK, das verschiebe ich lieber noch einmal.
Da aber schon das Thema „Ethik“ dem Tisch liegt, mache ich stattdessen einen Ausflug zu Gadamer und seinem Aufsatz „Die Kultur und das Wort“. Dabei handelt es sich um einen Vortrag, den der Philosoph zur Eröffnung der Salzbuger Hochschulwochen 1980 gehalten hat. Der Erstdruck erfolgte in „Kultur als christlicher Auftrag heute“, herausgegeben von Ansgar Paus, Kevelaer, Butzon & Bercker, Graz-Wien-Köln, 1981, S. 11-23. Ich entnehmen dem Text dem Bibliothek-Suhrkamp-Band „Hans-Georg Gadamer, Lob der Theorie, Reden und Aufsätze, Frankfurt am Main 1983, S. 9-25.
Für Gadamer ist es eine Wurzel der Kultur und ein besonderes Merkmal des Menschen, dass er seine Anschauung der Welt zur Sprache bringen, in „Worte“ fassen kann. Dieser Akt impliziert, dass der einzelne Mensch seine Anschauung der Dinge auch als seine individuelle preisgibt und damit zur Diskussion stellt. Zwischen den unterschiedlichen Anschauungen und den daraus folgenden Handlungsanweisungen dann einen allgemeinverträglichen Ausgleich ähnlich den Forderungen des Kategorischen Imperativs nach Kant auszuhandeln, ist das Feld der kulturellen Interaktion und der Ethik.
Sich selbst darzustellen, wäre nach Gadamer dann ein „Wort über sich selbst“, das die Selbst-Interpretation ebenfalls fremder Kritik aussetzt: „So sehe ich mich, was sagt Ihr dazu? Passt das so? Muss ich was ändern?“
Wer heute als medienkompetentes Individuum sein Image via Blog, eigener Website, Facebook, LinkedIn oder Xing gestaltet, wird wohl kaum davon ausgehen, dass er oder sie damit unkritisiert und unkommentiert durchkommt. Kommunikation im Internet bedeutet immer Dialog – machmal erschreckend direkt, ungebremst und heftig. Das allseits sichtbare ständige Feilen an Profilen und Web-Auftritten belegt, dass diese These etwas für sich hat.
Damit aber ist die heute geläufige Praxis der informationellen Selbstgestaltung ein aus ethischen Gesichtspunkten positiv beachtenswerter Prozess, der zur ungehinderten Selbstentfaltung des Einzelnen beiträgt.
Und stand dazu nicht irgendetwas im Grundgesetz? Das müssen wir jetzt also nur noch in der aktuellen Datenschutzgesetzgebung verankern.
Bis dann, wir sehen uns 2040. Oder später.