Kamera als Maske

Im alten Venedig konnte man jederzeit auf maskierte Bürger treffen – Menschen, die mit ihrem Umhang, ihrer Gesichtsmaske und ihrem Hut genau so stark anonymisiert waren wie heute eine orientalische Burka-Trägerin. In unserer westlichen Kultur dagegen zeigt man – auf Freiheit stolz – sein Gesicht.

Stimmt leider nicht, unsere Städte sind voll von Maskenträgern. Man begegnet ihnen an jeder Ecke, in der U-Bahn, im Bus, in der Kirche – überall.

„Was soll das denn“, denken Sie jetzt vielleicht. „Stimmt ja überhaupt nicht.“

Doch. Ich hole mal etwas aus.

Ein Kulturvergleich zwischen dem alten Venedig und dem modernen Westen, wie ihn Bettina Weßelmann und ich in unserem wissenschaftlichen Aufsatz zum Thema dieses Blogs angestellt haben, fördert tatsächlich eine recht unterschiedliche Haltung der Menschen in beiden Kulturen zu den Themen „Anonymität“ und „Maske in der Öffentlichkeit“ zutage.

Ein Maskenträger, dem man auf der Straße begegnete: Das war in Venedig ein idealer oder idealisierter Bürger – zumindest, wenn die Maske die Bauta war. In unserer Kultur dagegen erwartet man hinter Maskenträgern, wen man sie ausnahmsweise doch im Alltag trifft, eher Verbrecher oder zumindest Menschen, die „etwas zu verbergen“ haben. Folgerichtig gilt das Vermummungsverbot für Demonstrationen, während man in Venedig sogar „Vermummungsgebote“ für bestimmte politische Akte kannte. Halbwegs positiv werden Masken in unsere Kultur nur im Zusammenhang mit dem Karneval oder ähnlichem Brauchtum gesehen. Der Gebrauch von Masken ist auf Ausnahmezustände beschränkt, in denen man es sich erlaubt, Grenzen normalerweise angemessenen Verhaltens zu überschreiten und „die Sau rauszulassen“.

Das moderne Misstrauen in die Maske hat sich in den vergangenen Jahren in den heftigen Diskussionen um die Burka manifestiert. „Bei uns schaut man einander ins Gesicht“, hieß es dann zur Legimierung von Burka-Verboten aus Richtung der Politik. Demokratie und Anonymität scheinen unvereinbar.

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Foto: dpa (Burka-Trägerinnen), Amcrest (Kamera)

Vor diesem Hintergrund ist es merkwürdig, dass der heutige Westen eine sehr extreme, neuzeitliche Form der Maskierung durchaus akzeptiert und sogar als gesellschaftlichen Sicherheitsfaktor betrachtet.

Was ich meine, sind die allgegenwärtigen Überwachungskameras.

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Foto: Wikimedia Commons

Der Mensch hinter der Kamera versteckt sich. Hinter einer Kamera können viele Menschen stecken oder hinter vielen Kameras ein Mensch – oder gar kein Mensch, sondern eine Maschine, die die Effizienz des Zuschauens und Kontrollierens multipliziert. Wer von einer Kamera beobachtet wird, kann sein Gegenüber noch schlechter einschätzen als jemand, der einer Frau mit Burka auf der Straße begegnet. Keine Bewegung hilft ihm dabei, die Intentionen seines Gegenübers zu verstehen. Er weiß nicht, was der Beobachter hinter der Kamera mit den Bildern anstellt, die er gerade gewinnt. Ein Dialog mit dem Menschen hinter der Kamera ist entweder unmöglich oder hoch technisiert und damit von großer Distanz gekennzeichnet. Die Kamera als Maske erzeugt ein extremes Machtgefälle zwischen dem Maskenträger und dem, der unmaskiert auftritt und beobachtet wird.

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Überwachungskamera in der St.-Christophorus-Kirche in Werne. Foto: jw

Für die Kamera als Maske gilt:

  • Kein Gesicht zu sehen
  • Keine Gestik erkennbar
  • Unklar: Schaut jemand zu – oder gerade nicht?
  • Kommunikation findet nicht oder nur eingeschränkt statt
  • Das „Gegenüber“ bleibt unbekannt oder muss mühsam ermittelt werden.
  • Das „Gegenüber“ kann überall sein
  • Das „Gegenüber“ kann nicht helfen…
  • … aber durchaus eine Waffe abfeuern.
  • Kameras sind geeignet oder lassen sich, einsetzen um die Anonymität von Bürgern aufzuheben (Stichworte: Gesichtserkennung, Bewegungsprofile).

Wer von einer Kamera beobachtet wird, kann oder muss ich eine ganze Reihe von Fragen stellen:

  • Wer oder was steckt dahinter?
  • Wie reagiert er/sie/es auf mich?
  • Ist da ein Mensch, mehrere Menschen, Maschinen, nur ein Rekorder?
  • Was macht/machen er/sie/es/sie mit den Bildern?
  • Findet Gesichtserkennung statt? Abgleich mit anderen Bildern?
  • Wie, wo, für wen, wie lange werden die Bilder gespeichert?
  • Wie komme ich an die Bilder?
  • Lande ich irgendwann auf YouTube?
  • Holt er/sie/es Hilfe oder schaut er/sie/es nur zu?

Vor diesem Hintergrund ist es merkwürdig, dass eine Demokratie zugleich das Tragen von Masken kriminalisieren und den Einsatz von Überwachungskameras fordern und fördern kann. Ethisch vertretbar wäre dies nur, wenn man davon ausgehen könnte, dass sich hinter den Kameras immer die Guten verbergen und dass die von Kameras Beobachteten immer die potenziell Bösen sind. Dies allerdings ist selbst bei einer prinzipiell vertrauenswürdigen Staatsmacht wie in Deutschland ein frommer Wunsch – ganz abgesehen davon, das hinter den meisten Überwachungskameras, denen der Bürger in der Öffentlichkeit gegenübersteht, private Betreiber stecken, deren Umgang mit den Bildern kaum kontrollierbar ist.

Die Burka übrigens, so ambivalent sie mit ihren frauenfeindlichen Konnotationen heute auch sein mag, hatte in ihrer Kultur durchaus auch eine Funktion zum Schutz der Privatsphäre. Sie ist das Zelt, das man mit sich herumträgt, um in der Öffentlichkeit allein zu sein. Mit der Schutzfunktion der Burka spielen wunderschön auch die Macher der „Burka-Avenger“-Zeichentrickserie – man sieht es, wenn man den Linien eines ihrer Filmplakate einmal mit dem Zeichenstift folgt.

BuAv

Das verborgene Zelt - Quelle siehe separater Beitrag.

 

 

Transparenzgesellschaft als Katastrophe

Mal wieder etwas entdeckt, was viele andere schon kennen dürften: Byung-Chul Han kritisiert in seinem Buch „Transparenzgesellschaft“ (Berlin 2012) scharf das entsprechende Prinzip, das hier und hier schon Thema dieses Blogs war.

Byung

Der Philosoph sieht in der konsequent verfolgten Forderung nach Transparenz die Gefahr einer Gleichschaltung der Gesellschaft, in der alles Individuelle, Andere und Fremde durch die Diskreditierung aller unverständlich erscheinenden Lebensäußerungen unterdrückt wird. Aus seiner Sicht bedroht radikale Transparenz, wenn sie sich zum gesellschaftlichen Paradigma aufschwingt, auch die Kunst, da sie sowohl jene privaten Rückzeugsräume zu eliminieren sucht, in denen individuelle Kreativität ohne eine früh einsetzende und begleitende Kritik gedeiht, als auch Formen rätselhafter und geheimnisvoller Kommunikation an sich zurückzudrängen versucht. Der Wunsch, alles durchschauen zu wollen, zerstört überdies das Prinzip Vertrauen – siehe dazu das Interview mit dem Philosophen: „Wie steuern auf eine Katastrophe zu“ im Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 50/2012.

Anonymität – zwei journalistische Perspektiven

Zwei Bücher aus den Federn renommierter Journalistinnen liegen vor mir auf dem Schreibtisch, die das Thema „Anonymität im Web“ nicht unterschiedlicher angehen könnten. Gerade im Vergleich werfen sie ein interessantes Licht auf die Diskussion des Themas in den Medien und in der Gesellschaft.

Das erste der beiden Werke ist Christiane Schulzki-Haddoutis Beitragssammlung „Vom Ende der Anonymität – Die Globalisierung der Überwachung“. Es erschien im Heise-Verlag unter dem „Telepolis„-Label wohl zuerst im Jahr 2000, ich besitze die zweite Auflage von 2001.

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Christiane Schulzki-Haddouti und ihre Co-Autoren gehen das Thema primär politisch motiviert an und fragen lange vor der Snowden-Ära angesichts zunehmender Überwachung durch Geheimdienste, Strafverfolger und andere machtvolle Institutionen nach den Auswirkungen von Video- und Internetüberwachung auf den Bürger und damit auf Freiheit und Demokratie.

Dass Menschen zuweilen Dinge zu verbergen haben – etwa Informationen über eigene Erkrankungen oder übe persönliche politische Einstellungen in totalitär regierten Umgebungen – gilt den Autoren als gegeben, und die Möglichkeit der anonymen Kommunikation und Informationsbeschaffung sehen sie deshalb als massiv bedrohte, aber notwendige Instrumente der Informationellen Selbstbestimmung und des Datenschutzes an. Der Grundton des Buches ist eher pessimistisch. Florian Rötzer etwa spricht von einem „Grundrecht auf Anonymität“ und und legt dann dar, wie sehr es unter Beschuss stehe.

Snowdens Enthüllungen darf man durchaus als Bestätigung der im Buch vorgetragenen Positionen sehen.

Das zweite Buch ist Ingrid Brodnigs „Der unsichtbare Mensch – Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert“. Dieses Buch ist im Czernin Verlag, Wien, 1913 erschienen, also mehr oder weniger zeitgleich zu den Snowden-Veröffentlichungen.

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Ingrid Brodnig startet ganz anders: beim Phänomen des Cyber-Mobbings und der rüden Umgangsformen in anonymen Webforen. Sie zeigt, wie die Möglichkeit zur anonymen Meinungsäußerung im Internet auch dazu führen kann, dass sich unreflektierte, extremistische Äußerungen leichter verbreiten als ohne diesen Kanal oder dass Individuen ungestraft massiv angegriffen und herabgesetzt werden können. Für die Autorin ist die Anonymität im Internet ein neues Phänomen, das möglicherweise die Gesellschaft negativ beeinflusst. Am Ende diskutiert sie aber auch die Vorteile der Chance zur anonymen Meinungsäußerung im Web und zeigt Möglichkeiten auf, die Anonymität als Option beizubehalten und negative Auswirkungen dennoch zu begrenzen.

Hier geht es mir zunächst um die Ausgangspunkte der beiden Autorinnen und die daran knüpfenden Argumentationsstrukturen.

Christiane Schulzki-Haddoutis Buch ist fundiert und wichtig, die Autorin hat nicht umsonst Preise für die dem Buch zugrundeliegende Berichterstattung gewonnen. Aber das Werk nimmt die Perspektive einer extrem medienkompetenten, publizistisch geübten, interneterfahrenen und politisch aktiven Elite ein, deren Akteure sich außerdem sicher sein können, zumindest einen gewissen Einfluss auf die politische Kultur ausüben zu können. Hierin sind die Autoren kurioserweise den Apologeten der Transparenzgesellschaft wie David Brin und Christian Heller ähnlich, die in Sachen Informationelle Selbstbestimmung zwar zu diamatetral entgegengesetzten Forderungen kommen, aber ebenfalls nur für eine Welt publizistisch und medial erfahrener und aktiver Menschen schreiben.

Nehmen wir einmal an, ich würde einen kleinen Rezeptionstest machen und „Vom Ende der Anonymität“ einer Reihe älterer Verwandter und Bekannter vorlegen, mit denen ich häufiger zusammentreffe. „Älter“heißt beispielsweise: 72, 77 und 84. Hier im platten Münsterland gern auch 10 Jahre jünger, man hinkt hiesigen Ortes der modernen Welt doch etwas  langwieriger hinterher als anderwso.

Die Reaktion wäre wahrscheinlich: keine. Anonymität im Internet und die politischen Implikationen, ja die ganze hier vorgetragenen Abstraktionsebene der Internetnutzung  wären den meisten Probanten aus meinem Testpersonenkreis so fremd, so obskur und so weit hergeholt mit ihren Brückenschlägen zwischen individuellen Interessen und dem Agieren von Geheimdiensten und internationalen Strafverfolgern , dass sie das Buch als Produkt einer freakigen Parallelwelt ansehen würden: „Das geht uns doch nichts an. Weiß ich nicht, was die da wollen. Diese Anonymität, das ist doch was für diese Hacker und Pädophile“.

Dagegen anzuargumentieren wäre dann genau so zum Scheitern verurteilt wie der jüngst miterlebte Versuch einer juristisch und politologisch vorgebildeten Person, auch nach den frauenfeindlichen Ausschreitungen in Köln zur Silvesternacht vor der gleichen Clientel noch gegen stammtischmäßige Forderungen nach Schnellabschiebung für straffällig gewordene Flüchtlinge zu plädieren, weil man in Deutschland doch endlich einen erprobten und gut funktionierenden Rechtsstaat habe, der sich für Urteile glücklicherweise Zeit nehme und nicht in unselige Praktiken vergangener deutscher Dunkelzeiten unterschiedlicher Ausprägung verfalle. „Ach, jetzt komm‘ mir nicht wieder mit Nazis und Stasis, da muss man doch was tun, ihr labert immer nur, was Du da sagt ist doch nichts für uns normale Leute! Die müssen raus, sofort!“

Eine der ersten unangenehmen Wahrheiten, die ich als Politikstudent einst lernen musste, ist, dass man so etwas als wahrhaftig politisch engagierter Mensch nicht abtun oder zum Anlass nervöser Zuckungen oder baldiger Auswanderung nehmen darf. Wohin auch? Wo gibt es das nicht? Äußerungen der wiedergegebenen Art scheinen auf irrationalen Ängsten und Gedanken zu beruhen und dumm zu sein, sind vor dem begrenzten Horizont, auf dem sie entstehen, aber eben doch rational. Wer hat „Schuld“ oder muss sich „dumm“ nennen lassen, wenn er etwas nicht kennt, weiß oder versteht und deshalb Angst davor verspürt und dagegen vorgehen will? Den Menschen, die so reden, nicht mit nachvollziehbaren Antworten zu entgegenzukommen, ist fahrlässig und: elitär und arrogant. Das heißt aber nicht im Gegenschluss, dass man sich Personen, die auf dem entsprechenden Niveau argumnetieren, nun anbiedern und die eigene Meinung verbiegen solle. Aber etwas mehr Mühe beim Erklären komplexer Sachverhältnisse könnten sich speziell manche Akteure der IT- und Internet-Szene schon geben.

So, wie komme ich von dieser hochtrabenden Schreibe nun wieder zu Ingrid Brodnig?

Ganz einfach, ihr Buch würde meinen halbgaren Rezeptionstest vermutlich verstehen. Von „Cybermobbing“ hätten viele, die noch unmittelbar oder mittelbar Kontakt zur Welt moderner Teenager haben, vielleicht schon etwas gehört. Anderen hätte das Fernsehen die Thematik nahegebracht, und zwar nicht automatisch auf schlechte Weise. Wieder andere hätten schon hier und da davon gelesen, wie schwierig es ist, etwa als Unternehmen oder Arzt gegen eine (wirklich?) unberechtigte schlechte Beurteilung durch anonyme „Kunden“ im Web vorzugehen. Und ein gar nicht so kleiner Teil ist wahrscheinlich schon selbst im Web auf die eine oder andere unzivilisierte Hasstirade gestoßen und hat sich davor erschrocken. All das ist aus der Sicht des „normalen“ Bürgers wohl deutlich konkreter als die diffuse Schnüffelei der berühmten Drei-Buchstaben-Organisationen, die doch nur „Verbrecher“ und „diese Journalisten und so“ betreffen kann…

„Der unsichtbare Mensch“ geht von einem Phänomen und von Geschichten aus, die viele Menschen berühren, und wägt Einschätzungen ab, über die auch jenseits der Internet-Eliten leichter Einverständnis und eine breitere Argumentationsbasis zu erzielen sind als über den abstrakten Ansatz des Schulzki-Haddouti-Buches.

Deshalb ist Brodnigs Buch aber nicht seichter oder unreflektierter. Die Autorin spricht auch die Vorteile anonymer Kommunikation – wie erwähnt – sehr wohl an und zeigt – wie ebenfalls erwähnt- sogar konkrete Ansätze auf, wie man diese Vorteile auch dann erhalten kann, wenn man gegen ausufernde Pöbeleien und Hetze unter dem Mantel der Anonymität aktiv vorgeht. Etwa, indem man ein anonymes Forum so betreibt, wie es die Wochenzeitung „Die Zeit“ offenbar tut.

Deshalb ist Ingrid Brodnigs Buch für mich hier erst einmal interessanter.

Darüber hinaus sei schon einmal verraten, dass es eine ganze Reihe Anknüpfungspunkte zur venezianischen Anonymitätskultur bietet, auch wenn die Autorin letztere in ihren Ausführungen nicht erwähnt. Um diese Anknüpfungspunkte wird es nun in den folgenden Beiträgen gehen.

David Brins „Transparente Gesellschaft“

Habe begonnen, David Brins schon 1998 erschienenes Buch „The Transparent Society“ zu lesen – ein engagiertes Plädoyer für eine Gesellschaft, in der nichts verborgen bleibt und alle Akteure sich gegenseitig überwachen. Masken jeglicher Art mag der Autor gar nicht, auch keine Verschlüsselung, all dies ist für ihn negativ besetzt. Er glaubt, dass eine allgegenwärtige, nicht exklusiv einer Steuerungsinstitution zugängliche, gegenseitige Kontrolle massiv zur Verbesserung der Lebensbedingungen beiträgt, weil sie wie ein Immunsystem auf alle Fehler und Missbrauchsversuche innerhalb der Gemeinschaft reagiert und Verantwortung und Rechenschaftspflicht durchsetzt. Kreatives Anderssein ist für ihn das, was jeder Mensch will, und die jederzeit mögliche Kritik durch andere Menschen das Mittel der Wahl, unter diesen Umständen jeden Einzelnen in den Schranken sozialverträglichen Verhaltens zu halten.

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Brins Buch ist eine der wichtigen Grundlagen für Christian Hellers Überlegungen, die hier schon Thema waren.

Was bei Brin auffällt, ist, dass sein durchaus faszinierendes Gesellschaftsmodell fast ausschließlich aktive, medienkompetente und einflussreiche, immer wache und auseinandersetzungsbereite Akteure kennt, die permanent ihre Position und mögliche Bedrohungen im Auge haben und in ihrer kommunikativen Internetwelt unmittelbar auf Angriffe reagieren können oder zumindest in der Lage sind, ihr Bild innerhalb der Gemeinschaft aktiv zu formen.

Das Weltbild eines aktiven Bloggers und Publizisten?

Kranke, temporär oder langfristig hilflose, in Sachen Medien weniger begabte, unterdrückte oder einfach nur schüchterne Personen, die von einer Maskierung profitieren könnten und vielleicht gerade unter dem Schutz einer Maske erst an der offenen Diskussion teilzunehmen vermögen, kommen bei ihm nicht vor – und auch kaum die Überlegung, dass Kreativität hin und wieder Zurückgezogenheit braucht, vom Spiel mit Identitäten und Rollen profitiert und andererseits durch permanente Kritik vielleicht auch einmal blockiert wird.

Zumindest nach etwa einem Drittel des Buches ist dies mein Eindruck. Mal sehen, ob dies noch zu revidieren ist, aber das Phänomen an sich war ja schon Thema in der Diskussion mit Heller. Das Konzept der transparenten Gesellschaft jedenfalls fasziniert noch immer!

Privacy geht auch anders – Gedankenaustausch mit Christian Heller

Christian Hellers Buch „Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“ ist für jemanden, der die eigene Privatsphäre schätzt und Überwachung fürchtet, zunächst einmal harter Tobak: Heller befürwortet eine transparente Welt, in der jeder sein Leben komplett offenlegt. Menschen könnten so am besten voneinander lernen, schädliche soziale Entwicklungen vermeiden – und selbst Personen mit den wildesten Interessen und Lebensentwürfen fänden dank Transparenz auf jeden Fall irgendwo Gleichgesinnte und könnten so sozialen Repressionen entgehen.

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Liest man den Text, spürt man einen Seite für Seite wachsenden Druck, nicht so unsozial zu sein, irgendetwas verbergen zu wollen. „Privacy“ steht in Hellers Kosmos für Unvollkommenheit: Die Menschheit soll im Idealfall so tolerant sein, dass niemand etwas verbergen muss. Den Kampf um Privacy im Internet hält Heller bereits weitgehend für verloren.

„Datenschutz“ und speziell das Konzept der „Privatsphäre“ im uns geläufigen Sinne sieht Heller auch kritisch – unter anderem  als potenzielle Schutzfunktion der existierenden Machthaber und Machtstrukturen. Er verweist außerdem auf negative Seiten traditioneller Privatsphären-Konzepte, etwa den fragwürdigen Schutz häuslicher Gewalt, der sich lange Zeit damit verband.

Dieser Versuch einer Zusammenfassung ist allerdings nur eine extrem verkürzte Darstellung des Werks. Das Buch ist definitiv lesenswert, auch wenn man dem Autor generell nicht zustimmt oder speziell nicht der Meinung ist, dass die schwarzen Seiten des Sich-Verbergens den Privatsphäre-Gedanken so weit diskreditieren.

Es gibt zwei Formen von „Privacy“, die sich Heller auch für die Zukunft als sinnvoll vorstellen kann:

  • Eine Art freie Übereinkunft, auch ohne Schutzmaßnahmen bestimmte Bereiche des Lebens einfach dem Einzelnen zu überlassen, sie nicht weiter erforschen zu wollen und sie auch nicht zu bewerten und
  • eine temporäre Privacy nach der Art, wie man im Web einen Anonymizer benutzt.

Dazu hatten wir einen kurzen Gedankenaustausch per E-Mail, den ich hier wiedergeben darf:

JW:

Hallo Herr Heller,

würde gern etwas mit Ihnen diskutieren. Ich lese gerade „Post Privacy“ (spät, aber  gründlich), bin noch nicht durch, aber beziehe Ihre spannenden Ideen auf ein altes  europäisches Anonymitätskonzept, dem ich in meiner Freizeit auf den Grund zu gehen  versuche.

Link dazu folgt.

Ich teile Ihre Ansicht, dass die typisch deutsche Datenschutzidee historisch gewachsen  ist und wahrscheinlich gar nicht mehr so recht auf die moderne Internetwelt passt.

Ich kann auch nachvollziehen und würde jederzeit unterschreiben, dass die  „extrovertierte“ Version von informationeller Selbstbestimmung nicht nur „Pfui bah“ ist,  sondern ihre Vorteile hat, akzeptiert gehört und als Modell bedenkenswert ist.

Da ist nur ein Problem, das mich beschäftigt: Ich glaube, als Individuum muss man hin und  wieder die Möglichkeit haben, „die Rolladen zuzuziehen“ und eine Weile mit sich oder  seinen engsten Freunden allein zu sein („The right to be left alone“). Sei es, um mit  sich selber ins Reine zu kommen und sich selber im einen oder anderen Lebensentwurf  auszuprobieren, ohne dass irgendwer von außen seinen Senf dazu gibt. Sei es, um einfach  eine Weile unbeobachtet und vor allem unbewertet ruhen und sich von was auch immer erholen zu können. Genau das ist für mich „Privacy“.

Deshalb beschäftigt mich das alte, dummerweise vergessene Modell der venezianischen  Anonymitätskultur. Was ich dazu nach und nach ausgrabe, finden Sie unter  http://www.licence-to-mask.com. Der englische Teil hinkt dem deutschen leider derzeit mächtig  hinterher.

Die Venezianer teilten unsere aktuelle Vorstellung von einerseits privatem, andererseits öffentlichem Leben gar nicht. In beiden Sphären zogen sie sich temporär eine genormte  Gesellschaftsmaske über, wenn sie meinten, für eine bestimmte Aktion anonym zu sein sei  einfach besser – beim Meinungsaustausch im Senat, bei ersten Verhandlungen mit  unbekannten Händlern, im Casino, im Hafen oder beim Besuch von Liebhaber oder  Liebhaberin. Das alte Venedig war ein Denunzianten- und Schnüffelstaat erster Güte mit  gefürchteter Staatinquisition, aber die Masken-Zuflucht hatten zumindest die  Stadtadeligen (und jeder, der so tat, als ob) über etliche Jahrhunderte hinweg immer. Das  Ganze funktionierte bis zum Einmarsch der Österreicher so gut, dass sich die Venezianer  am Ende die Maske nur noch an den Hutrand klemmten oder durch eine weiße Spielkarte  ersetzten – als Signal, zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht als „Person“ gelten zu wollen,  sondern als „Anonymous“, dem man sein Tun und Lassen bitte nicht zurechne – solange er  bestimmte Grenzen (Gewalt) nicht überschritt.

Wäre das ein „Privacy“-Modell, dass zur Internetgesellschaft passt? The right to be left  alone, wenn die ganze Außenwelt einfach mal zuviel wird? Wäre mir sehr sympathisch…

Gruss,
Johannes Wiele

Heller:

Hmm, finde vor allem den letzten Punkt interessant, dass die Anonymität zum Ende hin bereits durch die Hutkarte funktionierte. Das hieße, so ich das richtig verstehe, dass die Identität des „Anonymisierten“ nicht streng geheim war (im Sinne einer Sache, die Unautorisierte schlicht nicht wissen /konnten/), aber man sich sozial darauf einigte, sie zu ignorieren.

Ich glaube, Privatheit auf Grundlage faktischer Geheimhaltung ist ein Auslaufmodell: Es lässt sich immer weniger verhindern, dass eine bestimmte Information nach außen hin verfügbar wird. Privatheit auf Grundlage sozialer Konvention im Sinne der Hutkarte kann ich mir dagegen als weiterhin machbar vorstellen: Wir könnten wissen, was Andere Leute in ihrem Schlafzimmer tun, wir haben dazu die technischen Mittel, und vielleicht sind Daten, die es umschreiben, sogar in irgendwelchen Datenbanken gespeichert und fließen in irgendwelche statistischen Kalkulationen mit ein. Aber vielleicht halten wir es trotzdem für unsittlich, diesen Daten hinterher zu stöbern, und vor allem, für die Betroffenen spürbar und sie bedrängend in ihr Schlafzimmer hinein zu lugen. Wie vermutlich auch der Hutkartenträger kann ich mir nicht hundertprozentig sicher sein, dass nicht doch irgendwer gegen diese soziale Konvention verstößt und mir bis in mein Schlafzimmer nachspioniert. Aber soweit diese soziale Konvention stark ist, kann ich damit rechnen, dass derjenige, der gegen sie verstößt, sozial abgestraft wird, so er dabei ertappt wird.

Das greift über in ein kurioses Argument, das David Brin in seinem Buch zur „Transparent Society“ entwürft: Die totale Transparenz könnte Privatsphäre vielleicht sogar hier und da stärken, weil auch jeder Akt des Spionierens, Überwachens und Spannens sichtbar gemacht und dadurch leichter sozialer Kontrolle unterworfen werden könnte. Bliebe eine starke soziale Konvention bestehen, dass diese oder jene Form des Eindringens in die Privatsphäre unduldbar sei, ließe sich diese Konvention dann umso stärker durchsetzen, wo jeder Privatsphären-Eindringling bei seiner Untat sofort ertappt würde.

Anekdotisch spricht dafür die gar nicht so neue Erfahrung, dass es „private“ Bereiche des Lebens gibt, die keineswegs im Verborgenen stattfinden, die in bestimmten öffentlichen Sphären zum Thema zu machen man sich aber dennoch verbittet. Wo und mit wem ich nach Dienstschluss mein Bier trinke, geht meinen Arbeitgeber nichts an, da hat er nicht reinzureden; nun kann es dennoch geschehen, dass er durch Zufall davon erfährt – das aber sollte kein Problem sein, er hat mir dennoch nicht im beruflichen Kontext daraus einen Strick zu drehen oder es mir zu verbieten oder mies zu machen. Dieses „Gewähren“ von Privatsphäre, ohne dass sie des Schutzes der Verborgenheit bedarf, könnte vielleicht die eine oder andere bisherige Privatsphäre auf Grundlage von Verborgenheit ersetzen.

JW:

Die Antwort gefällt mir.

Sie passt auch gut zu den Venezianern. Ihr Anonymitätsmodell war ja nicht verordnet, sondern ist aus spielerischen Umgangsformen miteinander entstanden und dann soziale Konvention geworden. Später fand man das Ganze eben auch praktisch für eine Art Vorgängerform der „freien und geheimen Wahlen“ im Senat, den maskierten Gedankenaustausch.

Und gerade da, wo es formal besonders geregelt zuging, passt Ihr Argument noch einmal. Als ich meiner Frau zum ersten Mal vom „anonymen“ Diskutieren und den Fistelstimmen bei den politischen Diskussionen erzählte, hat sie mich prompt ausgelacht: „Das glaubst Du doch selber nicht, dass die nicht wenigstens den einen oder anderen erkennen konnten. Da gab es doch auch welche, die besonders klein, dick, dünn oder groß waren, hinkten oder ihre Marotten hatten!“ Stimmt ja, so „wasserdicht“ wie es das deutsche Datenschutzgesetz sein will, konnte die venezianische Methode gar nicht sein. Eher gab es viele Grauzonen, immer neue Mixturen aus halbgarer Anonymität und halbsicherem gegenseitigem Erkennen, aber mit offenbar meistens funktionierender gegenseitiger Achtung.

Mir gehen zwei weitere Dinge nicht aus dem Kopf:

Spielen mit Anonymität, Pseudonymität oder Zweit-Identitäten werden Menschen bestimmt immer, wie damals erst beim Karneval und der Commedia dell‘ Arte, heute in den Imageboards, in virtuellen Spielwelten und so weiter, selbst wenn Menschen ihr Leben sonst sehr offen führen. Und: Es gibt sicher auch immer den einen oder anderen Lebensstatus, in dem sich ein Mensch so verletzlich fühlt, dass ihm der bloße Blick von außen (vielleicht temporär) einfach zu viel wird. Hoffentlich gibt es dann eine Konvention, ihn mit sich oder ein paar Wenigen eben doch allein zu lassen.

Die Argumentation von Brin schaue ich mir jetzt auf jeden Fall einmal genauer an.

Noch zwei ganz kurze Fragen.

Die erste ist praktischer Natur: Darf ich Ihre Antwort auf den Licence-to-Mask-Blog stellen? Nicht lachen.

Die zweite: Als immerhin eine Möglichkeit, eine Form von „Privacy“ auch in einer Post-Privacy Welt zu erhalten, sehen Sie eine sehr individualistische temporäre Selbstverbergung etwa durch Anonymizer an. Diese hätte dann nicht die historischen Implikationen wie unser Datenschutz, der immer noch „Sphären“ wie überholte patriarchalische (und matriarchalische, ich komme aus dem Münsterland) Familienstrukturen mittransportiert. Freut mich natürlich, weil es dem venezianischen Modell mit seiner Maskierung quer zu den Gesellschaftssphären recht nahekommt. Würden Sie auf dieser Basis denn zustimmen, dass es vielleicht doch positiv ist, wenn der Einzelne wenigstens temporär die Vorhänge zuziehen kann – und sei es, um in Ruhe einen Gedanken auszubrüten, den er selber noch nicht für so fertig hält, dass er ihn fremder Kritik aussetzen will? Selbst wenn das Gefühl, ein Individuum zu sein, ja trügt, sind Einzelne auch in ihrem Weltbild ja so etwas wie potenziell einzigartige Wirkungskonstellationen aus sozialen und anderen Einflüssen, bei denen es sich lohnen könnte, auf ihre eigene Interpretation der Dinge auch einmal ein wenig zu warten. Hirn als Hardware dazu läuft ja leider eher langsam.

Heller:

Nur ganz kurz, weil ich grad im größtenteils internetfreien Urlaub bin:

Ja, Antworten dürfen gern veröffentlicht werden.

„dass es vielleicht doch positiv ist“, klar, ich will gar nicht in Abrede stellen, dass das (mindestens: auch) Vorteile haben kann, wenn es denn gelingt.

(Ende des Dialogs)

Hellers Vorstelllugen von einer möglichen „Privacy im Transparenzzeitalter“ kommen dem venezianischen Maskenwesen wirklich erstaunlich nahe. Im Nachhinien frage ich mich allerdings, ob zumindest in unserer Gesellschaft schon jeder „digital“ souverän und stark genug ist und andererseits die Geselllschaft weit genug ist, dass man auf den Schutz der Privatsphäre durch den Staat verzeichten könnte. Paradebeispiel ist für mich der Mensch im Krankenhaus, der sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung temporär einfach nicht ausüben kann.

Trotzdem. Vielleicht ist es an der Zeit, individuellere Formen von Privacy unter die Lupe zu nehmen. Das viel diskutierte Recht etwa, sich anonym zu informieren und Transaktionen so weit wie möglich ohne Freigabe persönlicher Daten durchzuführen, wird zurzeit nicht sonderlich hoch gehalten. Warum eigentlich?