Kamera als Maske

Im alten Venedig konnte man jederzeit auf maskierte Bürger treffen – Menschen, die mit ihrem Umhang, ihrer Gesichtsmaske und ihrem Hut genau so stark anonymisiert waren wie heute eine orientalische Burka-Trägerin. In unserer westlichen Kultur dagegen zeigt man – auf Freiheit stolz – sein Gesicht.

Stimmt leider nicht, unsere Städte sind voll von Maskenträgern. Man begegnet ihnen an jeder Ecke, in der U-Bahn, im Bus, in der Kirche – überall.

„Was soll das denn“, denken Sie jetzt vielleicht. „Stimmt ja überhaupt nicht.“

Doch. Ich hole mal etwas aus.

Ein Kulturvergleich zwischen dem alten Venedig und dem modernen Westen, wie ihn Bettina Weßelmann und ich in unserem wissenschaftlichen Aufsatz zum Thema dieses Blogs angestellt haben, fördert tatsächlich eine recht unterschiedliche Haltung der Menschen in beiden Kulturen zu den Themen „Anonymität“ und „Maske in der Öffentlichkeit“ zutage.

Ein Maskenträger, dem man auf der Straße begegnete: Das war in Venedig ein idealer oder idealisierter Bürger – zumindest, wenn die Maske die Bauta war. In unserer Kultur dagegen erwartet man hinter Maskenträgern, wen man sie ausnahmsweise doch im Alltag trifft, eher Verbrecher oder zumindest Menschen, die „etwas zu verbergen“ haben. Folgerichtig gilt das Vermummungsverbot für Demonstrationen, während man in Venedig sogar „Vermummungsgebote“ für bestimmte politische Akte kannte. Halbwegs positiv werden Masken in unsere Kultur nur im Zusammenhang mit dem Karneval oder ähnlichem Brauchtum gesehen. Der Gebrauch von Masken ist auf Ausnahmezustände beschränkt, in denen man es sich erlaubt, Grenzen normalerweise angemessenen Verhaltens zu überschreiten und „die Sau rauszulassen“.

Das moderne Misstrauen in die Maske hat sich in den vergangenen Jahren in den heftigen Diskussionen um die Burka manifestiert. „Bei uns schaut man einander ins Gesicht“, hieß es dann zur Legimierung von Burka-Verboten aus Richtung der Politik. Demokratie und Anonymität scheinen unvereinbar.

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Foto: dpa (Burka-Trägerinnen), Amcrest (Kamera)

Vor diesem Hintergrund ist es merkwürdig, dass der heutige Westen eine sehr extreme, neuzeitliche Form der Maskierung durchaus akzeptiert und sogar als gesellschaftlichen Sicherheitsfaktor betrachtet.

Was ich meine, sind die allgegenwärtigen Überwachungskameras.

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Foto: Wikimedia Commons

Der Mensch hinter der Kamera versteckt sich. Hinter einer Kamera können viele Menschen stecken oder hinter vielen Kameras ein Mensch – oder gar kein Mensch, sondern eine Maschine, die die Effizienz des Zuschauens und Kontrollierens multipliziert. Wer von einer Kamera beobachtet wird, kann sein Gegenüber noch schlechter einschätzen als jemand, der einer Frau mit Burka auf der Straße begegnet. Keine Bewegung hilft ihm dabei, die Intentionen seines Gegenübers zu verstehen. Er weiß nicht, was der Beobachter hinter der Kamera mit den Bildern anstellt, die er gerade gewinnt. Ein Dialog mit dem Menschen hinter der Kamera ist entweder unmöglich oder hoch technisiert und damit von großer Distanz gekennzeichnet. Die Kamera als Maske erzeugt ein extremes Machtgefälle zwischen dem Maskenträger und dem, der unmaskiert auftritt und beobachtet wird.

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Überwachungskamera in der St.-Christophorus-Kirche in Werne. Foto: jw

Für die Kamera als Maske gilt:

  • Kein Gesicht zu sehen
  • Keine Gestik erkennbar
  • Unklar: Schaut jemand zu – oder gerade nicht?
  • Kommunikation findet nicht oder nur eingeschränkt statt
  • Das „Gegenüber“ bleibt unbekannt oder muss mühsam ermittelt werden.
  • Das „Gegenüber“ kann überall sein
  • Das „Gegenüber“ kann nicht helfen…
  • … aber durchaus eine Waffe abfeuern.
  • Kameras sind geeignet oder lassen sich, einsetzen um die Anonymität von Bürgern aufzuheben (Stichworte: Gesichtserkennung, Bewegungsprofile).

Wer von einer Kamera beobachtet wird, kann oder muss ich eine ganze Reihe von Fragen stellen:

  • Wer oder was steckt dahinter?
  • Wie reagiert er/sie/es auf mich?
  • Ist da ein Mensch, mehrere Menschen, Maschinen, nur ein Rekorder?
  • Was macht/machen er/sie/es/sie mit den Bildern?
  • Findet Gesichtserkennung statt? Abgleich mit anderen Bildern?
  • Wie, wo, für wen, wie lange werden die Bilder gespeichert?
  • Wie komme ich an die Bilder?
  • Lande ich irgendwann auf YouTube?
  • Holt er/sie/es Hilfe oder schaut er/sie/es nur zu?

Vor diesem Hintergrund ist es merkwürdig, dass eine Demokratie zugleich das Tragen von Masken kriminalisieren und den Einsatz von Überwachungskameras fordern und fördern kann. Ethisch vertretbar wäre dies nur, wenn man davon ausgehen könnte, dass sich hinter den Kameras immer die Guten verbergen und dass die von Kameras Beobachteten immer die potenziell Bösen sind. Dies allerdings ist selbst bei einer prinzipiell vertrauenswürdigen Staatsmacht wie in Deutschland ein frommer Wunsch – ganz abgesehen davon, das hinter den meisten Überwachungskameras, denen der Bürger in der Öffentlichkeit gegenübersteht, private Betreiber stecken, deren Umgang mit den Bildern kaum kontrollierbar ist.

Die Burka übrigens, so ambivalent sie mit ihren frauenfeindlichen Konnotationen heute auch sein mag, hatte in ihrer Kultur durchaus auch eine Funktion zum Schutz der Privatsphäre. Sie ist das Zelt, das man mit sich herumträgt, um in der Öffentlichkeit allein zu sein. Mit der Schutzfunktion der Burka spielen wunderschön auch die Macher der „Burka-Avenger“-Zeichentrickserie – man sieht es, wenn man den Linien eines ihrer Filmplakate einmal mit dem Zeichenstift folgt.

BuAv

Das verborgene Zelt - Quelle siehe separater Beitrag.

 

 

Jeder kann jeder sein

Jeden Morgen beim Brötchenholen stehe ich an der gleichen Ampel. Neulich pappte ein neuer Aufkleber dran.

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Irgendwie mal was anderes als die übliche flüchtige Katze, der nächste Anti-Nato-Protest oder „suche zwei Zimmer mit Bad“.

Länger hingeschaut habe ich wegen der Kombination aus „anybody can be anybody“ und „Psychologie“. Das erinnerte mich daran, dass eine Maskierung manchmal gehemmten Menschen helfen kann, aus sich herauszukommen oder ihre Meinung zu sagen. Anonymität und Rollenspiel schaffen eben nicht nur ein Paradies für Feiglinge, sondern auch eine Schutzzone für Schüchterne.

Also was steckt nun hinter dem Zettel?

Werbung für ein Buch und ein Therapieangebot, der Aufkleber propagiert die so genannte Würfeltherapie.

Sie geht davon aus, dass jeder Mensch das Potenzial hat, unterschiedliche Persönlichkeitstypen auszuleben. Handlungsentscheidungen konsequent Würfeln zu überlassen, soll deshalb Personen  helfen, die in engen Handlungsmustern gefangen sind und deshalb keinen Zugang zu den Möglichkeiten ihres Ichs haben.

Eine „Erfolgsgeschichte“ auf der Seite „Spiel mit dem Zufall“ berichtet denn auch von einem Kellner, der auf Jobsuche geht und vor jedem Lokal, auf das er trifft, die Würfel befragt, ob er hineingehen und nach einer freien Stelle fragen soll. Natürlich gerät er so an ein Restaurant, in das er sich ohne Zufallsentscheid nie hineingetraut hatte, und wird glücklich.

Irgendwie ein seltsames Konzept. Aber es zeigt immerhin, dass viele Menschen einem „Spiel“ mit ihrer Identität positive Seiten abgewinnen.

Maske und freie Meinungsäußerung: Rollenspiel für die Schüchternen

Interessante Beiträge in der Zeitschrift „Psychologie Heute„: Offenbar gelingt es introvertierten, eher schüchternen Menschen recht leicht, die Rolle einer extrovertierten, forschen Person zu spielen und entsprechend zu agieren, wenn man sie erst einmal auf die Idee gebracht hat und ein wenig bei diesem Vorhaben unterstützt. Das Rollenspiel bietet ihnen eine faszinierende Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Persönlichkeit einfach zu sprengen. Der Beitrag berichtet von Personen, denen dies im Berufsleben fortwährend gut gelingt, während sie im Privatleben eher ihrem Naturell treu bleiben.

Extrovertierte, dominante Personen, die zum Beispiel zur Förderung der Leistung eines Teams auch einmal den vorsichtigen Zuhörer geben sollen oder wollen, bekommen das erstaunlicherweise weniger gut hin.

Wussten die Venezianer dies schon? Bauta und Tabarro boten auch Personen, die Streit und Auseinandersetzungen eher abgeneigt waren und dabei im „richtigen Leben“ regelmäßig zu verstummen oder zu unterliegen drohten, eine echte Chance, im politischen Meinungsbildungsprozess ihre Sache zu vertreten. Ob dieses Phänomen intentional eine Rolle für die Pflicht zum Tragen von Bauta und Tobarro in politischen Gremien gespielt hat, ist wohl nicht mehr herauszufinden. Es ist nur interessant, dass das venezianische Anonymitätsmodell den Nebeneffekt, die Schüchternen in den politischen Entscheidungsfindungsprozess besser zu integrieren, einfach hatte.

Die Beiträge:

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Maske und freie Meinungsäußerung: Oscar Wilde

Ein schönes Oscar-Wilde-Zitat: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er sagt die Wahrheit.“

Das müssen die Venezianer wohl auch im Sinn gehabt haben, als sie in politischen Gremien das Erscheinen in Bauta und Tabarro zur Pflicht machten und sich angewöhnten, dabei zusätzlich mit verstellter Stimme zu sprechen.

Die Maskierung bei der politischen  Aussprache wirkte also nicht nur auf die jeweiligen Zuhörer, die die Person des Sprechenden nicht recht einschätzen und deshalb nur seine Argumente abwägen konnten, sondern auch auf den Sprecher selbst, der geschützt durch die Verkleidung auf Bedingungen wie sein persönliches soziales Umfeld und die Zwänge seiner näheren Lebenumstände keine Rücksicht nehmen musste.

Heißt auch: Man kann tatsächlich nicht einfach sagen, Maskierung und anonymes Auftreten wirkten immer und automatisch deindividualisierend. Manch einer vertrat vielleicht nur hinter Bauta und Tabarro seine innersten Überzeugungen.

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Beitrag in der Wirtschaftszeitung „Brand eins“

Carolyn Braun hat in der Wirtschaftszeitung „Brand eins“ einen schönen kleinen Beitrag über mein Bauta-Projekt geschrieben: Die Maske der Ehrbaren. Wer nicht lesen will, kann den Text übrigens auch hören oder als MP3-Datei speichern (Auf der Seite den Eintrag „brand eins 07 / 2012 Schwerpunkt: Digitale Wirtschaft“ wählen, Klick mit rechter Maustaste auf Hören).

Leider hat sich am Anfang ein Fehler eingeschlichen: Dass sich alle Anonymous-Aktivisten in Deutschland „Bernd“ nennen, war so nicht gesagt, nicht gehört, nicht verstanden und auch nicht von der Autorin notiert – da hat vermutlich eine flotte Kürzungsaktion der Redaktion ihre Spuren hinterlassen. „Bernd“ nennen einander die Teilnehmer des deutschen Image-Boards „Krautchan“, „Anonymous“ die des englischsprachigen Boards „4Chan“. Die Infos dazu stehen am Ende dieses Artikels. Aber ansonsten mir gefällt der Beitrag wirklich gut, und das Gespräch mit der Autorin hat viel Spaß gemacht. Dass sie mit dem Begriff „Verhüllungsgebot“ operiert, der so schön mit dem deutschen „Vermummungsverbot“ kontrastiert, macht mir besondere Freude.

Während des Interviews ist mir übrigens plötzlich ein Aspekt der politischen Meinungsäußerung hinter einer Maske klargeworden, der den meist negativ beurteilten Aspekt der enthemmenden „Deindividuation“ (siehe auch hier) noch einmal in ein ganz anderes Licht rückt: Dieser Effekt hilft vielleicht schüchternen Menschen, die sich die Teilnahme an einer offenen politischen oder anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzung gar nicht zutrauen, vor allem wenn diese, wie es so bezeichnend heißt, potenziell „persönlich“ wird. Zu dieser im Grunde trivialen, aber für die Behandlung des Themas wichtigen Erkenntnis demnächst mehr in einem eigenen Artikel.

Deutschlandradio Kultur“ berichtete über das Brand-eins-Heft und nahm sich dabei – im letzten Viertel des Hörstücks – ebenfalls Zeit für die Masken. Das Rundfunkbeitrag steht ebenfalls zum Anhören oder zum Download (Verfahren siehe oben) zur Verfügung.

Alle Seitenabrufe erfolgten zuletzt am 11.08.2012.

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Wie geht es weiter?

Der “Bauta”-Blog ist nach dem Hack 2011 wieder hergestellt, und ein paar neue Artikel  sind geschrieben. Zeit, einen kleinen Plan für die nächsten Vorhaben aufzustellen. Folgene Fragen möchte ich zuerst angehen:

  • Wie passt das Bauta-Anonymitätskonzept zu bekannten sozialwissenschaftlichen und philosophischen Konzepten des „privaten“ und „öffentlichen“ Lebens?
  • Wie unterscheiden sich Anonymitätskonzepte für geschlossene Internet-Communities von denen, die das ganze Internet im Blick haben? Wozu würde die Bauta passen?
  • Ist die Idee einer „Internet-Netiquette“ etwas, das sich mit dem „Gentleman-Faktor“ des Bauta-Gebrauchs vergleichen lässt?

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Signora Maschera war ein Gentleman

Offenbar hielt sich der Missbrauch der venezianischen Gesellschaftsmaske immer in einem sozial erträglichen Rahmen, sonst hätten die Venezianer an ihr nicht festgehalten bis schließlich die Österreicher in Italien einmarschierten und die Politik und Kultur der Inselstadt grundlegend änderten. Ein kleines Rätsel ist es dabei schon, dass das Anonymisierungsmittel “Bauta” so gut funktionierte, denn eine Gelegenheit zum anonymen Handeln bedeutet immer auch eine Versuchung zu antisozialem, egoistischem Verhalten. M.E. Kabay etwa verweist in Anlehnung an die Deindividuationstheorie darauf, dass praktische Anonymität Unhöflichkeit, Unehrenhaftigkeit und aggressives Benehmen fördern kann und der Selbstreflexion entgegenwirkt (seinen Essay finden Sie unter den Quellen).

Ich habe schon erwähnt, dass einer der Gründe für die geringe, durchaus tolerierbare Missbrauchsrate der Bauta in der Tatsache begründet liegt, dass die Venezianer als Maskenträger den Regeln und Erwartungen der Gesellschaft eben nicht entgingen. Außerdem konnten, was allerdings eine extreme Maßnahme gewesen sein dürfte, im Fall der Fälle recht einfach demaskiert werden. Man sollte vielleicht aber noch etwas bedenken, wenn man sich fragt, warum die Venezianer auch als Maskenträger ihre guten Manieren behielten: Mit dem Anziehen der Bauta verließen sie ihre individuelle Existenzform und spielten stattdessen die Rolle eines idealtypischen Stadtadeligen.

Bauta - Carnevale Venezia 2011

Bild: Fotolia.com, Gloria Guglielmo
 

Die Rolle der „Signora Maschera“ war nicht nur, wie schon erwähnt, generischer Natur und vordefiniert, sondern verlangte auch, sich im Verhalten dem idealisierten Modell eines noblen Patriziers anzunähern. Hier gibt es sicherlich Parallelen zu alten Vorstellungen vom „perfekten Gentleman“ mit seinem perfekten Stil und ausgefeilten Manieren. Bei Karbe und Toscani (siehe Quellen) finden sich Hinweise darauf, dass sich venezianische Bauta-Träger bewusst höflich und ritterlich gaben und dass sie Wert darauf legten, sich in der Maske elegant zu bewegen und auch in ihrer Kommunikation mit den Mitbürgern so elegant wie möglich zu wirken.

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Hedonistisch, unmoralisch und gefährlich?

Über Jahrhunderte wurde der venezianische Lebensstil als hedonistisch und unmoralisch gebrandmarkt. Für Fremde waren vor allem der Karneval und die Tatsache, dass so viele Venezianer Masken trugen, Grund genug für Verdächtigungen. Jemand, der eine Maske trägt, muss doch etwas zu verbergen haben, dachten sie, und was würde eine Person schon verbergen wollen wenn nicht etwas Verbrecherisches oder Unmoralisches?

Mario Belloni drückt es heute etwas freundlicher aus, aber die grundsätzliche Wertung der venezianischen Kultur ist immer noch dieselbe wie in der Vergangenheit: ‚Sie waren Kaufleute, Abenteurer, die jeden Tag den eigenen Besitz und oft auch das eigene Leben auf Schiffen aufs Spiel setzten, die Kurs auf den geheimnisvollen Orient nahmen. Piraten, Unwetter, Angriffe feindlicher Flotten, unbekannte Länder: Geheimnis und Abenteuer! Und dieser Menschenschlag kam nicht einmal in der Stadt, in Venedig, zur Ruhe. Das Abenteuer war untrennbar mit ihrer Lebensweise verbunden. Und aus diesem Grunde schuf man eine Stadt, die jede Art von Abenteuer bot, und das in jeder Hinsicht! Der Karneval und die Masken stehen überall für die Umkehrung der Regeln und bedeuten völlige Handlungsfreiheit. Durch sie verborgen ist alles machbar, jedes Abenteuer ist von neuem möglich, und das auch in der Stadt, inmitten der Institutionen, trotz der Gesetze und moralischen Gebote, wie streng sie auch immer sein mögen. Und so kommt es, daß der Karneval über die eigenen Grenzen tritt und die Maske Einzug hält ins tägliche Leben. In bestimmten Umgebungen wurden die Masken sogar gesetzlich vorgeschrieben! Das Glücksspiel (ein schönes Beispiel für das Abenteuer in der Stadt) war so etwas wie ein „Nationalsport“ in Venedig, aber im staatlichen Spielkasino (dem „Ridotto“) konnte man nur maskiert spielen.‘

Sicherlich ist an dieser Erklärung etwas Wahres. Wer die deutsche Stadt Köln während des Karnevals besucht, wird vermutlich bestätigen können, dass diese Art Fest auch dazu da ist, Dinge zu tun, die man sonst nicht wagen würde. Dennoch ist Bellonis Erklärung, warum die Venezianer Masken trugen, wahrscheinlich zumindest teilweise falsch. Nach der Lektüre der Bücher von Karbe und Toscani (siehe „Quellen“) gehe ich davon aus, dass speziell der Gebrauch der Bauta einen ernsthafteren und durchdachteren sozialen und politischen Hintergrund hatte. Die Venezianer hatten ein sehr gutes Verständnis davon, wozu Anonymität gut sein konnte. Und, was besonders wichtig ist, ein Bürger oder eine Bürgerin, der oder die in Venedig eine Maske trug, entkam nicht Recht und Gesetz. Natürlich konnte eine maskierte Person etwas unternehmen, wovon sie nicht wollte, dass es ihr von anderen zugerechnet wurde, aber ihr Verhalten musste sich dennoch im Rahmen bestimmter Erwartungen und geschriebener Gesetze bewegen. Mit Bauta und Volto maskierte Venezianer waren nicht auf antisoziales Verhalten aus.

Für Menschen älterer Generationen mag das Internet-Leben der „Digital Natives“ ähnlich verdächtig aussehen wie das Leben der alten Venezianer aus Sicht fremder vergangener Kulturen ihrer Zeit. Ironischerweise hat ja selbst das „Piratentum“ wieder eine neue Bedeutung als Kernthema. In beiden Fällen missverstehen Kritiker eine Kultur, die die Vorteile der Anonymität verteht und damit umzugehen weiß. Das ist eines der Themen, mit denen ich mich in Zukunft befassen möchte.

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Die Alltagsmaske der Geschäftsleute

Der Münchner Wirtschaftsberater und Psychologe Dirk Appel hat mich daran erinnert, dass das deutsche Wort „Person“ (englisch „person“, italienisch „Persona“ und so weiter) auf den lateinischen Begriff „persona“ zurückgeht, der „Maske“ bedeutete. Etymologisch wurzelt er in „per sonare“, einem Ausdruck für einen Schauspieler, dessen Stimme durch eine Maske zu hören ist. Nach Appels Ansicht werden Manager heute dafür bezahlt, eine Rolle zu spielen – ein essentieller Teil ihres Berufs. Die Person, die sie vorstellen, ist so modelliert, dass sie bestimmten Erwartungen der Wirtschaftswelt gerecht wird. Mit ihrem „inneren Ich“ stimmt diese Maske selten überein. Man sage also nicht zu leichtfertig, man trage niemals eine Maske.

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